Das sündige Viertel
Shenja, die sich noch immer in allen Spiegeln betrachtet. Zwei weitere Droschken fahren gegenüber vor, bei Solja Wassiljewna. Das Viertel belebt sich allmählich. Schließlich rumpelt noch ein Wagen übers Pflaster, und sein Lärmen bricht vorm Eingang von Anna Markownas Haus ab.
Der Portier Simeon hilft in der Empfangshalle jemandem aus der Garderobe. Shenja hält sich mit beiden Händen an den Türpfosten fest und schaut hinaus in die Diele, doch gleich wendet sie sich wieder zurück, zuckt im Gehen die Schultern und schüttelt verneinend den Kopf.
»Ich weiß nicht, ein ganz Unbekannter«, sagt sie halblaut. »War noch nie bei uns. Ein Papachen, dick, mit Goldrandbrille und in Uniform.«
Emma Eduardowna kommandiert mit einer Stimme wie ein Signalhorn der Kavallerie: »Meine Damen, in den Saal! In den Saal, die Damen!«
Eine nach der anderen stolzieren sie in den Saal: Tamara mit bloßen weißen Armen und freiem Hals, den eine künstliche Perlenkette ziert; die dicke Katka mit dem fleischigen, viereckigen Gesicht und der niedrigen Stirn – sie ist ebenfalls dekolletiert, doch ihre Haut ist rot und pickelig; die neue Nina, stupsnäsig und ungeschickt, in einem papageigrünen Kleid; die andere Manka – die Große Manka oder Manka Krokodil, wie sie genannt wird; und als letzte Sonka Ruderblatt, eine Jüdin, mit unschönem dunklem Gesicht und außerordentlich großer Nase, die ihr auch ihren Spitznamen eingebracht hatte, jedoch mit solch wunderschönen großen Augen, gleichzeitig sanft und traurig, feurig und feucht, wie sie von allen Frauen auf der ganzen Welt nur die Jüdinnen haben.
6
Der nicht mehr junge Gast in der Uniform eines Wohltätigkeitsvereins trat mit kleinen, unentschlossenen Schritten ein, bei jedem Schritt den Körper ein wenig vorbeugend und sich mit kreisförmigen Bewegungen die Hände reibend, als wolle er sie waschen. Da alle Frauen feierlich schwiegen und ihn nicht zu beachten schienen, durchquerte er den Saal und ließ sich auf einem Stuhl neben Ljuba nieder, die der Etikette entsprechend nur ein wenig den Rock schürzte, ansonsten aber das zerstreute und unabhängige Gebaren eines Mädchens aus ordentlichem Hause wahrte.
»Guten Tag, mein Fräulein«, sagte er.
»Guten Tag«, erwiderte Ljuba knapp.
»Wie geht es Ihnen?«
»Danke, gut. Bieten Sie mir eine Zigarette an?«
»Pardon, ich bin Nichtraucher.«
»Ach so. Ein Mann und Nichtraucher? Nun, dann spendieren Sie mir Lafitte mit Limonade. Das mag ich wahnsinnig gern, Lafitte mit Limonade.«
Er schwieg.
»Uh, wie geizig, Papachen! Wo arbeiten Sie denn? Sind Sie bei den Beamten?«
»Nein, ich bin Lehrer. Für deutsche Sprache.«
»Ich glaube, ich hab Sie schon irgendwo gesehen, Papachen. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. Wo sind wir, uns nur begegnet?«
»Ich weiß nicht, wirklich nicht. Auf der Straße höchstens.«
»Vielleicht auch auf der Straße … Sie könnten mir wenigstens eine Apfelsine spendieren. Darf ich eine Apfelsine bestellen?«
Er schwieg abermals und blickte in die Runde. Sein Gesicht begann zu glänzen, und die Pickel auf seiner Stirn röteten sich. Ohne Eile begutachtete er die Frauen, suchte nach einer passenden, und gleichzeitig war ihm sein Schweigen peinlich. Es gab absolut nichts zu reden; außerdem irritierte ihn Ljubas gleichmütige Zudringlichkeit. Ihm gefiel die dicke Katja mit ihrem großen Körper, doch wahrscheinlich – überlegte er sich – war sie kalt in Liebesdingen, wie alle korpulenten Frauen, und außerdem nicht hübsch. Es reizte ihn auch Vera durch ihr knabenhaftes Aussehen und ihre kräftigen Schenkel, die das weiße Trikot fest umspannte, und die Blonde Manja, die so sehr einer unschuldigen Gymnasiastin ähnelte, und Shenja mit ihrem energischen, schönen bräunlichen Gesicht. Er hatte sich schon für Shenja entschieden und wollte sich vom Stuhl erheben, doch im letzten Moment überlegte er es sich anders: Shenjas ungezwungenes, saloppes und unnahbares Benehmen und die Tatsache, daß sie ihn überhaupt nicht beachtete, ließen ihn vermuten, sie sei das anspruchsvollste von allen Mädchen des Etablissements und gewohnt, daß die Besucher für sie mehr Geld ausgaben als für die anderen. Der Pädagoge aber war ein sparsamer Mensch, auf ihm lastete eine große Familie und eine verbrauchte, von seinen männlichen Ansprüchen schon ganz erschöpfte Ehefrau, die an einer Vielzahl von Frauenkrankheiten litt. Da er am Mädchengymnasium und an einem Institut unterrichtete, lebte er
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