Das sündige Viertel
schreit Shenja plötzlich. »Nicht ansehen kann ich dich, ohne daß mir schlecht wird. Hündin! Ich an deiner Stelle, wenn ich so unglückselig veranlagt wäre, würde lieber Hand an mich legen und mich mit den Korsettschnüren erdrosseln. Du Schlampe!«
Schweigend senkt Pascha die Wimpern über ihre Augen, die sich mit Tränen gefüllt haben. Manja versucht, für sie Partei zu ergreifen: »Was soll denn das, Shenetschka … Warum bist du so zu ihr …«
»Ach, ihr seid doch alle gleich!« schneidet Shenja ihr brüsk das Wort ab. »Kein bißchen Selbstachtung! Kaum kommt so ein Kerl, kauft euch wie ein Stück Kalbfleisch, mietet euch für Geld wie eine Droschke, um ein Stündchen Liebe zu machen, gleich schmelzt ihr hin: ›Ach, ein Liebhaber! Ach, welch überirdische Leidenschaft!‹ Pfui!«
Sie wendet sich zornig von ihnen ab und setzt ihren Gang diagonal durch den Saal fort, die Hüften wiegend und sich blinzelnd in jedem Spiegel betrachtend.
Unterdessen plagt sich Isaak Davidowitsch, der Pianist, immer noch mit dem ungeschickten Geiger herum.
»Nicht so, nicht so, Issai Sawwitsch. Legen Sie mal einen Moment die Geige weg. Hören Sie ein bißchen auf mich. So ist das Motiv.«
Er spielt mit einem Finger und singt mit schrecklicher Meckerstimme, wie sie allen Kapellmeistern eigen ist (er wollte früher einmal Kapellmeister werden): »Es-tam, es-tam, es-tiam, tiam … So, nun spielen Sie mir die erste Passage erst einmal nach … Achtung: eins, zwei …«
Ihr Üben wird aufmerksam verfolgt: von der grauäugigen Soja mit dem runden Gesicht und den runden Brauenbögen, die sich schonungslos mit roter und weißer Schminke angemalt hat und sich mit den Ellenbogen aufs Klavier lehnt, und von Vera, einer schwächlichen Kleinen mit ausgemergeltem Gesicht, die als Jockey kostümiert ist: rundes Mützchen mit geradem Schirm, blau-weiß gestreifte Seidenjacke, weiße, straffgegürtete Reithose und Lackstiefel mit gelben Stulpen. Vera ähnelt in der Tat einem Jockey mit ihrem schmalen Gesicht, in dem die stark glänzenden blauen Augen unter der verwegen in die Stirn hängenden Haartolle zu dicht über der nervösen, sehr hübschen Höckernase sitzen. Als die Musiker sich nach langem Bemühen endlich miteinander eingespielt haben, tritt die kleine Vera vor die hochgewachsene Soja hin, mit gehemmten Trippelschritten, herausgerecktem Hinterteil und abgespreizten Ellenbogen, wie sich nur Frauen in Männerkleidung bewegen, und macht vor ihr, die Arme weit nach unten breitend, eine komische Verbeugung. Und die beiden walzen mit großem Vergnügen durch den Saal.
Die flinke Njura, die stets als erste alle Neuigkeiten verkündet, springt auf einmal vom Fensterbrett und ruft, sich vor Aufregung und Eile verhaspelnd: »Bei Tröppel … ist einer vorgefahren … schick … mit elektrischem … Oi, Mädels … zum Verrücktwerden … elektrisches Licht an der Deichsel!«
Alle Mädchen, mit Ausnahme der stolzen Shenja, beugen sich aus den Fenstern. Vor Tröppels Eingang steht wirklich eine Luxusdroschke, neu und elegant, von frischem Lack blitzend, an den Deichselenden brennen zwei kleine gelbe Elektrolampen, das hochbeinige weiße Pferd schüttelt ungeduldig seinen schönen Kopf mit dem rosa Fleck auf der Nase, scharrt mit den Hufen und läßt die zarten Ohren spielen; der dicke, bärtige Kutscher sitzt auf dem Bock wie eine Statue, die Arme auf den Oberschenkeln ausgestreckt.
»Damit müßte man mal fahren!« kreischt Njura. »Onkelchen, he, Onkelchen Kutscher«, ruft sie und lehnt sich übers Fensterbrett, »willst du nicht ein armes Mädchen spazierenfahren? Darfst dafür auch einmal lieben …«
Doch der Kutscher lacht, macht eine kaum wahrnehmbare Fingerbewegung, und das weiße Pferd, als habe es darauf nur gewartet, zieht mit leichtem Trab an, wendet geschickt und verschwindet in gemessener Eile im Dunkel, zusammen mit der Droschke und dem breiten Kutscherrücken.
»Pfui! Wie empörend!« schallt Emma Eduardownas unwillige Stimme durch den Raum. »Wo gibt es so etwas, daß anständige Damen sich erlauben, aufs Fensterbrett zu steigen und über die ganze Straße zu schreien! Ein Skandal! Und wieder Njura, immer diese fürchterliche Njura!«
Sie wirkt majestätisch in ihrem schwarzen Kleid, mit dem welken gelben Gesicht, den dunklen Tränensäcken unter den Augen und dem zitternden, herabhängenden Dreifachkinn. Die Mädchen setzen sich, wie schuldbewußte Pensionstöchter, manierlich auf die Stühle an den Wänden, außer
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