Das sündige Viertel
gewöhnlich und unvermeidlich sind bei Picknicks, Spaziergängen außerhalb der Stadt und Bootsfahrten, wenn in der unergründlichen Tiefe des menschlichen Wesens, durch den ungezwungenen Kontakt mit Erde, Gras, Wasser und Sonne heimlich das urtümliche, herrliche, freie, von den Menschen jedoch entstellte und verschreckte Raubtier wieder erwacht.
So kam es, daß um zwei Uhr nachts, kaum daß das gemütliche Studentenrestaurant »Sperling« seine Pforten schloß und alle acht, angeregt vom Alkohol und vom reichlichen Essen, aus dem verräucherten, stickigen Keller nach oben auf die Straße traten, ins wohlige, erregende Dunkel der Nacht mit ihren lockenden Lichtern am Himmel und auf der Erde, mit ihrer warmen berauschenden Luft, die einen gierig die Nüstern weiten ließ, mit ihren von unsichtbaren Gärten und Blumenbeeten heranziehenden Düften – daß jedem von ihnen der Kopf glühte und verschwommene Sehnsüchte ihre Herzen leise bedrängten. Es machte sie froh und stolz, nach der Rast wieder frische Kraft in allen Muskeln zu spüren, tief durchzuatmen, ihr rotes Blut geschmeidig durch die Adern rinnen zu fühlen und alle Glieder elastisch zu beherrschen. Und ohne daß sie davon sprachen oder auch nur darüber nachdachten, reizte es sie in dieser Nacht, unbekleidet durch schlaftrunkenen Wald zu laufen, im taufeuchten Grase flüchtig nach Spuren zu wittern, mit lautem Ruf das Weibchen anzulocken.
Doch sich zu trennen, das fiel jetzt sehr schwer. Dieser ganze gemeinsam verbrachte Tag hatte sie alle zu einer Herde zusammengeschweißt. Es schien, wenn auch nur einer jetzt ausbräche, würde ein Gleichgewicht zerstört, das dann nicht wiederherzustellen wäre. Deshalb zögerten sie und standen vor dem Eingang zur Kellerkneipe auf dem Trottoir herum, die wenigen Passanten behindernd. Sie debattierten scheinheilig, wohin sie noch fahren könnten, um die Nacht voll auszukosten. Der Tivoli-Park lag sehr weit entfernt, und außerdem kostete es dort noch Eintritt, und die Preise in der Imbißstube waren irrsinnig, und das Programm war schon lange zu Ende. Wolodja Pawlow schlug vor, zu ihm zu fahren: er habe ein Dutzend Bierchen und etwas Kognak zu Hause. Aber alle fanden es dumm, mitten in der Nacht in eine Privatwohnung zu gehen, auf Zehenspitzen die Treppe hochzuschleichen und die ganze Zeit flüstern zu müssen.
»Also dann, Freunde … Fahren wir lieber zu den Mädels, das ist reeller«, sagte der ältere Student Lichonin entschieden, ein hochgewachsener, bärtiger Bursche mit etwas gebeugter Haltung und finsterem Gesicht. Seiner Überzeugung nach war er theoretischer Anarchist, seiner Berufung nach ein leidenschaftlicher Spieler – Billard, Rennwetten und Kartenspiel –, ein Spieler, der sehr viel, geradezu fatal viel riskierte. Erst am Vortage hatte er im Kaufmannsklub beim Makaospiel etwa tausend Rubel gewonnen, und dieses Geld brannte ihm noch in den Händen.
»Warum nicht? Gute Idee«, stimmte jemand zu. »Auf geht's, Freunde!«
»Lohnt denn das? So etwas ist doch ein Vorhaben für die ganze Nacht …«, entgegnete ein anderer mit geheuchelter Vernunft und vorgetäuschter Müdigkeit.
Und ein dritter sagte, wobei er ein Gähnen markierte: »Fahren wir lieber nach Haus, meine Herren, uaah … ein Nickerchen machen … Für heute reicht es.«
»Im Schlaf bringt man's zu nichts«, bemerkte Lichonin verächtlich. »Herr Professor, kommen Sie mit?«
Doch der Privatdozent Jartschenko sperrte sich und schien ernstlich verärgert, obwohl er womöglich selbst nicht wußte, was sich in einem der dunklen Winkel seiner Seele verbarg.
»Laß mich in Ruhe, Lichonin. Meines Erachtens, Herrschaften, ist das eine ganz offensichtliche Schweinerei, was Sie da vorhaben. War es nicht die ganze Zeit wunderschön und schlicht und gut? Aber nein, Sie wollen sich unbedingt noch in der Abfallgrube wälzen, wie trunkenes Vieh. Ohne mich.«
»Aber wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, sagte Lichonin mit höhnischer Gelassenheit, »dann habe ich noch vergangenen Herbst zusammen mit einem künftigen Mommsen irgendwo Bowle mit Eis in ein Klavier gekippt und den Burjatengott gespielt und Bauchtanz vollführt und all so was?«
Lichonin sprach die Wahrheit. In seiner Studentenzeit und anschließend, als er an der Universität bleiben durfte, hatte Jartschenko ein überaus wildes, leichtsinniges Leben geführt. In allen Kneipen, Kaffeehäusern und anderen Vergnügungsstätten kannte man seine kleine, dicke, rundliche Gestalt, seine
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