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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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Christi Blut versündigt haben, vernichten – dann wird sie auch ihm mit Freuden zustimmen. Und wer es zu alledem noch schafft, ihre Phantasie zu entflammen und sie in sich verliebt zu machen, dem folgt sie überallhin: zum Pogrom, auf die Barrikade, zu Diebstahl und Mord. Aber genauso leicht zu beeinflussen sind ja auch Kinder. Und sie sind Kinder, bei Gott, Kinder, mein lieber Lichonin …
    Mit vierzehn Jahren wird so ein Mädchen entjungfert, mit sechzehn ist sie eine patentierte Prostituierte, mit gelber Karte und venerischer Krankheit. Und damit ist ihr ganzes Leben umgrenzt und wie durch eine eigentümliche blinde und taube Mauer von der Welt abgetrennt. Achte einmal auf ihren Wortschatz – dreißig, vierzig Wörter, nicht mehr, ganz wie bei einem Kind oder bei einem Wilden: essen, trinken, schlafen, Mann, Bett, Chefin, Rubel, Liebhaber, Doktor, Krankenhaus, Wäsche, Polizist – das ist schon alles. Ihre geistige Entwicklung, ihre Erfahrungen und Interessen bleiben bis an ihr Lebensende auf kindlichem Niveau, genau wie bei einer grauhaarigen naiven Pensionsdame, die die Institutsschwelle seit ihrem zehnten Lebensjahr nicht mehr überschritten hat, wie bei einer Nonne, die als Kind schon ins Kloster gekommen ist. Kurzum, stell dir einen Baum vor, einen Baum von einer Art, die sehr groß wird, aber er wächst unter einer Glasglocke oder in einer Konservendose. Und zu eben dieser kindlichen Seite ihres Lebens rechne ich ihr erzwungenes Lügen, dieses harmlose, zwecklose und gewohnheitsmäßige Lügen … Aber: Welch schreckliche, nackte, unverhüllte Wahrheit liegt in diesem kommerziellen Feilschen um den Preis einer Nacht, in diesen zehn Männern pro Abend, in diesen gedruckten Vorschriften, die die Stadtväter erlassen, über die Benutzung von Borsäurelösung und über das Sichsauberhalten, in den wöchentlichen ärztlichen Untersuchungen, in den anstößigen Krankheiten, mit denen sie ebenso leicht und spaßig, ebenso einfach und ohne viel Aufhebens umgehen wie mit einem Schnupfen, in dem tiefen Abscheu dieser Frauen gegenüber den Männern – so tief, daß sie alle, ohne Ausnahme, sich auf lesbische Weise schadlos halten und das nicht einmal verheimlichen. Da haben wir ihr ganzes verpfuschtes Leben mit all seinem Zynismus, seiner abscheulichen und groben Ungerechtigkeit, aber es ist frei von jener Lüge und jener Verstellung vor den Leuten und vor sich selbst, in die die ganze Menschheit von oben bis unten verstrickt ist. Bedenke, mein lieber Lichonin, wieviel endloser, langweiliger, widerlicher Betrug, wieviel Haß in neunundneunzig von hundert Fällen die eheliche Gemeinschaft belastet. Wieviel blinde, erbarmungslose Grausamkeit – und zwar nicht tierische, sondern menschliche, verstandesmäßige, weitblickende, berechnende Grausamkeit – das heilige Muttergefühl begleitet, und sieh dir an, wie sentimental und blumig dieses Gefühl verklärt wird! Und all die unnützen, närrischen Berufe, die sich der kultivierte Mensch ausgedacht hat zum Schutz für mein Nest, mein Stück Fleisch, meine Frau, mein Kind, all diese Aufseher, Kontrolleure, Inspektoren, Richter, Staatsanwälte, Gefängniswärter, Advokaten, Vorsteher, Beamten, Generäle, Soldaten und noch Hunderte und Tausende anderer Bezeichnungen. Sie alle dienen der menschlichen Gier, Feigheit, Lasterhaftigkeit, der Sklaverei, der Wollust, der Trägheit – dem Elend! Ja, das ist das richtige Wort: menschliches Elend! Aber welche großen Worte! Altar des Vaterlands, christliche Nächstenliebe, Fortschritt, heilige Pflicht, heiliges Eigentum, heilige Liebe. Pfui! Ich glaube jetzt an kein einziges dieser schönen Worte mehr, und mir wird übel, unendlich übel von diesen Lügnern, Feiglingen und Freßsäcken! Diese Elenden! Der Mensch ist für große Freude geboren, für ständiges Schöpfertum, in dem er sich als Gott beweist, für freie, durch nichts eingeengte Liebe zu allem: zu Baum und Strauch, zum Himmel, zum Menschen, zum Hund, zur lieben, wundermilden, herrlichen Erde, ach ja, besonders zur Erde mit ihrer gesegneten Mütterlichkeit, mit ihren Morgen und Nächten, mit ihren tagtäglichen herrlichen Wundern. Und der Mensch hat sich so erniedrigt, sich selbst so verdorben durch Lügen und Bettelei! Ach, Lichonin, es ist traurig!«
    »Ich, als Anarchist, kann dich teilweise verstehen«, sagte Lichonin nachdenklich. Er schien dem Reporter zugehört zu haben und auch wieder nicht. In seinem Hirn erwachte schwerfällig ein Gedanke. »Aber eines

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