Das sündige Viertel
säuerlich und irgendwie unwohnlich, wie es frühmorgens immer in Räumen riecht, die nur zeitweise benutzt werden: in leeren Theatern, Tanzsälen, Hörsälen. Von fern aus der Stadt hörte man Wagengeklapper. Im Nebenraum tickte eintönig eine Wanduhr. Lichonin, eigentümlich erregt, ging im Saal auf und ab, rieb und knetete seine zitternden Hände und krümmte sich fröstelnd.
Hätte ich bloß diese verlogene Komödie nicht angefangen, dachte er nervös. Ganz zu schweigen davon, daß ich jetzt zum Gespött der gesamten Universität geworden bin. Der Teufel muß mich geritten haben! Dabei wäre es gestern noch nicht zu spät gewesen, als sie sagte, sie wolle zurückfahren. Ich hätte ihr nur das Geld für die Droschke zu geben brauchen und noch eine Kleinigkeit mehr, und sie wäre gefahren, und alles wäre gut, ich wäre jetzt frei und unabhängig und befände mich nicht in dieser quälenden, beschämenden Geistesverfassung. Aber jetzt ist es zu spät umzukehren. Morgen ist es noch später, und übermorgen erst recht. Wenn man eine Dummheit begangen hat, muß man eben sofort damit aufhören, denn wenn man nicht rechtzeitig Schluß macht, dann zieht sie zwei neue Dummheiten nach sich und diese wiederum zwanzig weitere. Oder ist es vielleicht auch jetzt noch nicht zu spät? Immerhin ist sie dumm, ungebildet und vermutlich auch, wie die meisten von denen, hysterisch. Sie ist ein Tierchen, das nur zum Essen und fürs Bett taugt! Oh! Teufel! – Lichonin preßte die Hände an Wangen und Stirn und verzog das Gesicht. – Und hätte ich wenigstens der primitiven, groben physischen Verführung widerstanden! Das ist nun schon zweimal passiert, und es wird so weitergehen noch und noch …
Doch parallel zu diesen Gedanken liefen andere, entgegengesetzte: Aber ich bin doch ein Mann! Ich werde doch zu meinem Wort stehen. Was mich zu dieser Tat trieb, war doch gut, edel und erhaben. Ich weiß noch genau, welche Begeisterung mich ergriff, als ich meinen Gedanken in die Tat umsetzte! Das war ein gewaltiges, reines Gefühl. Oder war es einfach eine Laune des vom Alkohol aufgeputschten Geistes, eine Folge der schlaflosen Nacht, des Rauchens und der langen intensiven Gespräche?
Und sofort sah er Ljubka vor sich, sah sie wie aus weiter Ferne, gleichsam aus nebelhafter zeitlicher Tiefe auftauchen, ungeschickt, scheu, mit ihrem unhübschen lieben Gesicht, das ihm plötzlich unendlich vertraut vorkam, als sei er schon lange daran gewöhnt, und zugleich war es ihm ungerechterweise, ohne jeden Anlaß, unangenehm.
Bin ich denn wirklich ein Feigling und Waschlappen? schrie Lichonin sich im stillen an und rang die Hände. Wovor habe ich Angst, vor wem schäme ich mich? Bin ich nicht immer stolz darauf gewesen, selbst über mein Leben zu bestimmen? Angenommen sogar, ich hätte mir die phantastische Grille in den Kopf gesetzt, einen psychologischen Test mit einer menschlichen Seele zu machen, einen seltenen Test, der neunundneunzig Prozent Mißerfolgschancen hat. Bin ich denn darüber jemandem Rechenschaft schuldig, oder muß ich jemandes Meinung fürchten? Lichonin! Soll dir doch die ganze Menschheit den Buckel runterrutschen!
Herein kam Shenja, verschlafen und zerzaust, in einem weißen Nachtjäckchen überm weißen Unterrock.
»Uaah!« gähnte sie, während sie Lichonin die Hand reichte. »Guten Tag, mein lieber Student! Wie fühlt sich Ihre Ljubotschka im neuen Heim? Laden Sie uns doch mal ein. Oder begehen Sie Ihren Honigmond in aller Stille? Ohne unbefugte Zeugen?«
»Laß die Scherze, Shenetschka. Ich komme wegen des Ausweises.«
»Aha. Wegen des Ausweises«, sagte Shenka nachdenklich. »Das heißt, hier gibt es keinen Ausweis, sondern Sie müssen sich von der Verwalterin die Karte geben lassen. Verstehen Sie, unsere übliche Prostituiertenkarte, und die wird dann auf dem Polizeirevier gegen einen richtigen Ausweis umgetauscht. Nur, wissen Sie, mein Lieber, in dieser Angelegenheit kann ich Ihnen schlecht helfen. Sie werden mich womöglich schlagen, wenn ich der Verwalterin und dem Portier ins Handwerk pfusche. Machen Sie am besten folgendes. Schicken Sie das Dienstmädchen zur Verwalterin, es soll ausrichten, ein Stammgast wäre hier, der müßte sie in einer bestimmten Angelegenheit unbedingt persönlich sprechen. Aber mich entschuldigen Sie, ich ziehe mich zurück, und seien Sie mir bitte nicht böse. Sie wissen ja: Das Hemd ist einem näher als der Rock. Aber warum stehen Sie hier allein im Dunkeln? Gehen Sie lieber ins
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