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Das sündige Viertel

Das sündige Viertel

Titel: Das sündige Viertel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Kuprin
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ihn Simanowski.
    »Was der Fürst sagt, hat Hand und Fuß. Das Beherrschen eines Musikinstruments verfeinert auf jeden Fall den ästhetischen Geschmack, und zuweilen kann es auch Lebenshilfe bedeuten. Ich meinerseits, meine Herren … ich erbiete mich, mit der jungen Person das ›Kapital‹ von Marx und die Geschichte der Menschheitskultur durchzuarbeiten. Außerdem Physik und Chemie.«
    Hätte Simanowski nicht so große Autorität genossen und mit so viel Nachdruck gesprochen, so hätten die anderen drei ihm glatt ins Gesicht gelacht. So sahen sie ihn nur mit großen Augen an.
    »Nun ja«, fuhr Simanowski ungerührt fort, »ich werde ihr eine ganze Reihe chemischer und physikalischer Versuche zeigen, die man daheim durchführen kann, die sind immer interessant und nützlich für den Verstand und bauen Vorurteile ab. Nebenher erkläre ich ihr dies und das über die Entstehung der Welt, über die Beschaffenheit der Materie. Und was Karl Marx betrifft, so halten Sie sich vor Augen, daß große Bücher dem Verständnis eines Gelehrten und eines ungebildeten Bauern gleichermaßen zugänglich sind, wenn sie nur verständlich dargelegt werden. Jeder große Gedanke ist schlicht.«
     
    Lichonin fand Ljubka am vereinbarten Ort, auf der Boulevardbank. Sehr ungern ging sie mit ihm nach Hause. Wie Lichonin vermutet hatte, graute ihr, da sie der rauhen alltäglichen Realität mit all ihren Unannehmlichkeiten längst entwöhnt war, vor der Begegnung mit der knurrigen Alexandra, und außerdem bedrückte es sie, daß Lichonin ihre Vergangenheit nicht vertuschen wollte. Doch sie hatte in Anna Markownas Etablissement schon lange verlernt, einen eigenen Willen zu haben, sie war ihrer Persönlichkeit beraubt und bereit, jedem fremden Ruf Folge zu leisten, und so sagte sie kein Wort und ging mit ihm.
    Die hinterhältige Alexandra war unterdes bereits zum Hausverwalter gelaufen und hatte sich beschwert, daß Lichonin, man denke, ein Mädchen mitgebracht und mit ihr in seinem Zimmer übernachtet habe, wer sie sei, das wisse Alexandra nicht, Lichonin behaupte, seine Cousine, aber den Ausweis habe er nicht gezeigt. Nun gab es lange, weitschweifige und ermüdende Verhandlungen mit dem Verwalter, einem groben und unverschämten Menschen, der alle Mieter des Hauses wie Einwohner einer eroberten Stadt behandelte und lediglich vor den Studenten ein wenig Respekt hatte, die ihm manchmal grimmigen Widerstand boten. Lichonin besänftigte ihn nur dadurch, daß er sofort für Ljubka ein anderes Zimmer nahm, einige Türen von seinem entfernt, direkt unter der Dachschräge, so daß es von innen wie eine geköpfte vierseitige Pyramide wirkte, niedrig und mit einem Fensterchen.
    »Trotzdem, Herr Lichonin, den Ausweis müssen Sie gleich morgen vorlegen«, sagte der Verwalter zum Abschied starrsinnig. »Sie sind ein ehrenwerter, arbeitsamer Mensch, und ich kenne Sie schon lange, und Sie zahlen auch immer pünktlich, deshalb tue ich das nur für Sie. Sie wissen selbst, was für schwierige Zeiten wir jetzt haben. Wenn uns jemand anzeigt, muß ich nicht nur Strafe zahlen, sondern kann unter Umständen aus der Stadt verwiesen werden. Jetzt herrschen strenge Sitten.«
    Am Abend gingen Lichonin und Ljubka im Fürstengarten spazieren, lauschten der Musik, die im Adelsforum spielte, und kehrten beizeiten nach Hause zurück. Er brachte Ljubka bis an ihre Zimmertür und verabschiedete sich sofort von ihr, übrigens mit einem sanften väterlichen Kuß auf die Stirn. Doch zehn Minuten später, als er bereits ausgezogen im Bett lag und Staatsrecht las, schlüpfte Ljubka wie ein Kätzchen in sein Zimmer, nachdem sie kurz an der Tür gekratzt hatte.
    »Liebster, mein Schätzchen! Entschuldigen Sie die Störung. Haben Sie vielleicht Nadel und Faden? Seien Sie nur nicht böse: ich gehe gleich wieder.«
    »Ljuba! Ich bitte dich, nicht gleich, sondern auf der Stelle gehst du! Ich befehle es dir!«
    »Mein Täubchen, mein gutes«, zwitscherte Ljubka komisch und kläglich, »was schreien Sie mich denn immerzu an?« Sie pustete schnell die Kerze aus, und in der Dunkelheit schmiegte sie sich an ihn, lachend und weinend zugleich.
    »Nein, so geht das nicht, Ljuba! So darf es nicht weitergehen«, sagte Lichonin zehn Minuten später; er stand an der Tür, in eine Decke gehüllt wie ein spanischer Hidalgo in seinen Mantel. »Gleich morgen besorge ich dir ein Zimmer in einem anderen Haus. Und überhaupt, so was darf nicht vorkommen! Nun geh mit Gott, gute Nacht! Du mußt mir dein

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