Das Syndikat der Spinne
mit dem Aufzug in den zweiten Stock und begaben sich in ein kleines Zimmer. Der Arzt schloss die Tür hinter sich, deutete auf einen Stuhl und nahm Claudia Schulze gegenüber Platz.
»Wie geht es meinem Mann?«, fragte sie, bevor er zum Sprechen ansetzen konnte. Er hatte die Hände gefaltet und die Mundwinkel ein wenig nach unten gezogen.
»Das lässt sich noch nicht sagen. Er hat sehr schwere Verletzungen davongetragen und …«
»Wird er durchkommen?«
»Wir hoffen es, Frau Schulze. Im Augenblick ist er im OP, wo alles getan wird, was in unserer Macht steht.«
»Wie schwer ist er verletzt?«
»Also«, sagte der Arzt und lehnte sich zurück, »ich will Ihnen gleich reinen Wein einschenken. Ihr Mann hat eine Schädelfraktur, einen Schädelbasisbruch, einen Beckenbruch, beide Arme und Beine sind mehrfach gebrochen, und er hat innere Verletzungen sowie zahlreiche Riss- und Schnittwunden. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.«
Claudia Schulze schloss für einen Moment die Augen. Jetzt ruhig bleiben, nicht in Hysterie verfallen, sagte sie sich. »Seien Sie bitte ganz ehrlich zu mir – hat er eine Chance?«
Der Arzt hob die Schultern und antwortete: »Er lebt noch, und das hat er zu einem großen Teil seiner äußerst robusten körperlichen Verfassung zu verdanken. Ihr Mann ist sehr durchtrainiert, und das kann den Ausschlag geben. Lassen Sie es mich so ausdrücken, die nächsten achtundvierzig Stunden sind entscheidend. Übersteht er die, steigen die Chancen jeden Tag um weitere zwanzig Prozent. Überlebt er die nächste Woche, dann könnte es sein, dass er wieder ganz hergestellt wird. Es gibt nur ein Problem, und da will ich Ihnen nichts vormachen. Ein Halswirbel ist angebrochen, und es ist möglich, dass Ihr Mann, wenn er es schaffen sollte, für den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt ist. Mit diesem Gedanken sollten Sie sich vertraut machen. Allerdings haben wir hier auch schon Wunder erlebt.«
Claudia Schulze schluckte schwer, Tränen lösten sich zum ersten Mal an diesem Tag aus ihren Augen und tropften auf das Kleid. »Tun Sie, was in Ihrer Macht steht, bitte! Wir haben eine kleine Tochter, und ich bin wieder schwanger. Wir brauchen ihn.«
Der Pieper ertönte, der Arzt schaute auf das Display, stand auf, griff zum Telefon und tippte zwei Tasten.
»Was gibt’s?«, fragte er. »Hm, ja …. Nein, seine Frau sitzt gerade bei mir … In Ordnung. Ich komme sofort rüber.« Er stand auf und sah Claudia Schulze an. »Ich muss schnell in den OP, bin aber gleich wieder da.«
»Was …«
»Warten Sie bitte hier auf mich«, sagte er und verließ das Zimmer.
Nach etwa zehn Minuten kehrte er zurück. »Frau Schulze, ich habe mir gerade eben selbst ein Bild machen können. Die inneren Blutungen wurden gestoppt, sein Blutdruck ist im Moment recht stabil. Und wie ich außerdem erfahren habe, wurde bei dem Bruch des Halswirbels allem Anschein nach kein Nerv eingeklemmt oder verletzt. Wenn alles gut geht, dann sollte eigentlich einer vollständigen Genesung nichts mehr im Wege stehen. Wie gesagt, wenn alles gut geht und keine unerwarteten Komplikationen auftreten.«
»Was für Komplikationen?«
»Frau Schulze, bei derart schweren Verletzungen können immer Komplikationen nach der OP auftreten. Aber sehen Sie es positiv, Ihr Mann hat bis jetzt überlebt, und unser Ärzteteam ist auch recht zuversichtlich.«
»Wann kann ich ihn sehen?«
»Die Operation dauert mit Sicherheit noch bis zum Abend. Aber Ihr Mann muss eine ganze Armada Schutzengel bei sich gehabt haben, denn einen Unfall bei Tempo hundertsechzig überlebt man nur selten.«
»Wann kann ich ihn sehen?«, fragte sie noch einmal.
»Nach der Operation oder den Operationen, wie immer Sie es nennen wollen, werden wir erst einmal seine Vitalfunktionen eingehend überprüfen. Dann steht noch die Überlegung an, ob wir ihn in ein künstliches Koma versetzen.«
»Warum?«
»Zum einen spürt er die Schmerzen nicht, zum anderen macht er keine unnötigen Bewegungen, und der Heilungsprozess geht schneller voran.«
»Ich möchte bei ihm sein, wenn er aufwacht«, sagte Claudia Schulze mit energischer Stimme.
»Sie können natürlich gerne hier bleiben und warten, bis die Operation vorbei ist. Es gibt einen kleinen Kiosk im Haus, aber auch eine Cafeteria, falls Sie Hunger oder Durst haben …«
»Nein, ich habe keinen Hunger. Ich warte einfach nur. Und wenn es bis morgen dauert.«
»So lange wird es nicht dauern«, sagte der Arzt lächelnd.
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