Das Syndikat der Spinne
Natascha, es ist ganz anders, als du denkst. Ich habe Irina sehr, sehr gerne gemocht, aber ich habe sie nie geliebt, denn in meinen Gedanken war ich immer nur bei dir. Und das ist die Wahrheit. Aber ich konnte es dir nicht sagen, weil ich wusste, wie gut du mit Irina befreundet warst. Sie hat sich als Erste in mich verliebt, das hat sie mir immer wieder gesagt, und ich habe sie natürlich auch auf eine gewisse Weise geliebt, aber in deiner Gegenwart habe ich mich immer wohler gefühlt. Frag mich nicht, warum, aber es ist so. Du bist die Frau, die ich eigentlich immer haben wollte, aber Irina stand zwischen uns. Und ich brachte es nicht übers Herz, einer von euch wehzutun. Glaub mir, ich schäme mich dafür, das so kurz nach Irinas Tod zu sagen, aber du hast darauf bestanden. Und ich will dich nicht auch noch verlieren. Deshalb bitte ich dich, pass gut auf dich auf. Es gibt Menschen, die sind zu allem fähig.«
Natascha sah ihm nach, wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war, und legte sich aufs Bett. Sie starrte an die Decke, lächelte, und dennoch liefen ein paar Tränen aus ihren Augenwinkeln. Sie war von ihren Gefühlen überwältigt und fragte sich gleichzeitig, was Daniel ihr verheimlichte.
Donnerstag, 18.15 Uhr
Hallo, Ramona. Dir geht’s nicht gut, nicht wahr? Komm«, sagte Sophia Wiesner und legte einen Arm um ihre Schulter, »setz dich zu mir und erzähl mir, was dich so bedrückt. Dass Andreas dich hintergangen hat, oder bricht jetzt einfach nur alles durch? Oder ist es die Beerdigung morgen?«
Ramona Wiesner zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich alles zusammen. Ich weiß nicht mehr weiter. Erst bringt er eine Frau um, die ich nicht einmal kenne, dann sich selbst. Ich habe Andreas wahrscheinlich nie wirklich gekannt. Er war immer so verschlossen und …«
»Komm, das Leben geht weiter, auch ohne ihn.« Sophia Wiesner nahm sie in den Arm. »Du wirst weiterleben, du wirst die Kinder großziehen, und eines Tages wirst du einen Mann finden, der wirklich zu dir steht. Glaube mir, die Zeit heilt alle Wunden.«
»Das sag ich mir auch andauernd, aber es ist alles noch so frisch. Und es ist so merkwürdig, ich sehe nicht einmal mehr sein Gesicht vor mir. Ich schaue mir ein Foto von ihm an und denke nur: Das war mein Mann? Sag mir, Sophia, habe ich Fehler gemacht? Wenn ja, kannst du mir vielleicht verraten, welche?« Ramona Wiesner sah ihre Schwägerin flehend an.
»Du hast keine Fehler gemacht, Ramona. Ich weiß natürlich nicht, wie ihr sonst miteinander umgegangen seid, aber wenn wir uns gesehen haben, dann habt ihr immer sehr glücklich gewirkt. War das nur gespielt?«
»Ich habe bestimmt nicht gespielt. Ich glaubte zumindest, die glücklichste Frau auf der Welt zu sein. Doch er war offenbar unglücklich oder unzufrieden, was weiß ich. Wie soll ich bloß den Kindern erklären, dass ihr Vater nie mehr wiederkommt? Wie würdest du es ihnen erklären?«
Sophia schüttelte den Kopf. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich bin zum Glück nicht in einer solchen Situation.«
»Ist Thomas da«, fragte Ramona Wiesner.
»Nein, er kommt etwas später. Sie haben noch eine Sitzung in der Bank, wie so oft. Für Amerikaner und Japaner zählen unsere Feiertage nicht, also muss Thomas arbeiten. Manchmal verfluche ich diese ewigen Sitzungen, bei denen sowieso nie etwas herauskommt. Sie reden und reden und reden, anstatt zu handeln. Hast du Hunger? Wir könnten uns etwas Schönes zu essen machen. Oder wir lassen uns jeder eine Pizza kommen. Wir haben hier einen Italiener, dereine Pizza macht, wie ich sie nur aus Neapel kenne. Dazu trinken wir ein Gläschen Wein, und dann sieht die Welt schon ganz anders aus. Was hältst du davon?«
Ramona Wiesner rang sich ein Lächeln ab und nickte. »Wie du weißt, trinke ich zwar normalerweise keinen Alkohol, aber vielleicht werde ich dadurch tatsächlich etwas lockerer. Ich bin total verspannt, habe Kopfschmerzen, mein Rücken tut weh, ich fühle mich einfach furchtbar. Und wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich eine Fremde.«
»Ramona, du bist noch immer dieselbe hübsche Frau, die ich vor über zwölf Jahren kennen gelernt habe. Du bildest dir da was ein. Und jetzt bestell ich uns die Pizza.«
Sophia stand auf, ging zum Telefon und rief in der Pizzeria an. Sie gab die Bestellung auf, kam zurück zu Ramona und setzte sich wieder. »Weißt du, Ramona, das Wichtigste im Leben ist Vergeben. Und das Zweitwichtigste Vergessen. Vergib Andreas, und wenn du das geschafft hast,
Weitere Kostenlose Bücher