Das Syndikat
aufgelegt ...
»Wo ist Paul?«, fragte Thérèse Cortot immer und immer wieder, selbst jetzt noch, als sie vor dem Quarantänezelt standen. Die Krankenschwester hatte sie hergeführt.
»Nein!«, schluchzte sie. »Das ist nicht passiert! Sagen Sie, dass es nicht passiert ist!«
»Madame Cortot, bitte ...«
Infektion durch Pestbakterien, hatte man ihnen anvertraut.
»Aber wie kann so was passieren? Paul ist doch gar nicht in dieser Abteilung!« Thérèse Cortot war völlig verzweifelt.
Durch die Folie erkannte Karen eine Gestalt auf der Liege, verbunden mit so vielen Schläuchen und Kabeln, die zu Geräten und Infusionsflaschen führten, dass es aussah, als würde das Leben nur noch durch sie aufrechterhalten. Der Türspalt und das gleißende Licht ... Du wirst doch keine Angst haben! Eine Erinnerung lebte wieder auf und tauchte gleich wieder ab. Sie hinterließ eine Ahnung von etwas Fürchterlichem, das da ganz tief in ihrem Innern atmete und das nur auf den richtigen Augenblick wartete, um aus dem Dunkel hervorzubrechen ...
Immer und immer wieder hatte sie gefragt, bis ein Arzt endlich mit leiser Stimme das Wort ausgesprochen hatte, das uralte Bilder aufsteigen ließ: blaue Geschwüre, die aufplatzten und eitrige Flüssigkeit absonderten, zerlumpte Gestalten, die sich durch mittelalterliche Gassen schleppten, huschende Ratten, Tote überall, rauchende Feuer, in den Kirchen Weihrauchdämpfe und beschwörende Worte der Priester ... und die Angst, der Nächste zu sein ...
Die Pest.
Thérèse Cortot hatte aufgeschrien, und Karen und der Arzt hatten sie festhalten müssen, bis sie ganz plötzlich ruhig geworden war, blass und gefasst.
Sie legte die Hände auf die Scheibe, als wollte sie ihren Mann berühren. Von ihrer Härte war nichts mehr übrig geblieben. Sie krümmte sich und weinte. »Paul ...«
»Madame Cortot«, begann Karen, aber sie wusste nicht, womit sie sie trösten sollte.
»Wie konnte das passieren? Warum Paul? Was hat er denn getan?«
»Madame Cortot, Thérèse, wir ...«
Doch sie hörte nicht zu. »Er dachte immer, dass er nicht gut genug ist. Dass er mich langweilt, dass ...« Sie schluckte. »Ich konnte es ihm nicht ausreden. Es ist einfach in ihm, verstehen Sie?«
Karen nickte, sie brauchte nicht zu antworten, der Frau war es egal, wem sie gerade ihr Herz ausschüttete. »Vielleicht lag es an seinen Eltern, aber ... er ist doch alt genug, oder? Mit einundvierzig ist man doch alt genug für ein eigenes Leben, meinen Sie nicht? Aber er denkt immer, die anderen sind besser als er. Und manchmal hat er mich gefragt, warum ich überhaupt mit ihm zusammen bin. Warum bist du mit mir zusammen?« Sie weinte wieder.
Karen wartete, dann fragte sie: »Warum?«
»Er macht sich so viele Sorgen«, sagte sie schluchzend. »Er wird es schaffen, oder?«
Karen atmete tief durch, was sollte sie sagen? »Sie müssen an ihn glauben, er wird sein Bestes tun.«
Sie fing wieder an zu weinen. »Paul, du darfst mich nicht verlassen ...« Ihre Knie knickten weg, sie brach zusammen, Karen fing sie auf, hielt sie, bis zwei Krankenschwestern hergeeilt kamen.
»Thérèse«, Karen legte ihr die Hand auf den Arm, »ich muss jetzt gehen.«
Sie bekam einen Weinkrampf. »Warum er?«, schrie sie, »Warum Paul? Was haben sie mit ihm gemacht?«
Karen schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. Nein, sie ertrug das nicht länger. Das gleißende Licht, Schläuche ... und das Pumpen, das stampfende Pumpen ... Eine Erinnerung wollte sich an die Oberfläche kämpfen, doch etwas hielt sie fest, zog sie immer wieder zurück, hinunter in die Tiefe. Karen wusste nicht, ob sie die Kraft haben würde, dies alles anzusehen, gleichzeitig wurde ihr klar, dass die Entscheidung darüber schon längst nicht mehr in ihrer Macht lag, ja, dass sie noch nie in ihrer Macht gelegen hatte. Etwas Unbekanntes, Verborgenes trieb sie weiter, die Spur zu verfolgen, die mit David angefangen hatte und irgendwo – irgendwo ganz woanders, das ahnte sie, enden würde.
Thierry hatte von zwei Personen gesprochen, rief sie sich in Erinnerung.
»Wo ist die Frau aus dem Wagen?«, fragte Karen die Krankenschwestern, die gerade versuchten, Madame Cortot in ein Bett zu legen.
»Ich darf Ihnen keine Auskunft geben«, sagte die eine mit einem schnippischen Unterton, doch Karen würde sich auf gar keinen Fall abweisen lassen. Dazu war es zu spät, viel zu spät.
»Passen Sie auf«, sagte sie und hielt ihr Handy hoch, »wenn ich meine Redaktion anrufe, wird in
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