Das Syndikat
Stipendiums beim Überqueren der Straße vor dem Haus ihrer Tante, die sie regelmäßig besuchte, von einem viel zu schnell fahrenden Auto erfasst worden. Der Fahrer beging Fahrerflucht und wurde nie gefunden.
Ab dem Zeitpunkt also, als sie Syd kennenlernte – auf einer politischen Demonstration während der letzten Wochen auf dem College –, war ihr ihr Leben aus der Hand genommen worden, stellte sie mit Bitterkeit fest. Nein, sie konnte es immer noch nicht glauben.
»Ist alles in Ordnung?« Saras Stimme drang durch die Tür.
»Jaja«, sagte Darlene, »ich komme gleich.«
Was soll ich tun? Sie schloss die Augen. Irgendwo musste sie eine Antwort finden. Irgendwo in den Winkeln ihrer Erinnerungen musste es ein Muster geben, einen Ratschlag, ein Prinzip, ein Motto, ein ...
Darlene faltete die Hände und schloss die Augen. Wie lange hatte sie schon nicht mehr gebetet? Wie lange hatte sie schon nicht mehr über ihren Glauben nachgedacht? Es hatte immer anderes, so viel anderes, Wichtigeres gegeben. So allein war sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gewesen.
Herr, hast Du mich diesen weiten, beschwerlichen Weg so weit gehen lassen, um mir jetzt zu sagen, ich soll ihn aufgeben? Der Weg war falsch? Hast Du mich mein Leben lang auf einen falschen Weg geführt? Herr, ich flehe Dich an, bitte, gib mir eine Antwort!
Sie lauschte. Zweimal hatte ER mit ihr gesprochen, das erste Mal, als ihr Vater gestorben war, und das zweite Mal, als Silva geboren wurde.
Alles, was wir sind, sind wir, weil Gott es so wollte ... Die Worte ihres Vaters drangen zu ihr. Diese Überzeugung hatte ihm die Kraft gegeben, den Tod seines Sohnes zu überleben, auf der Universität zu höchsten Ehren zu kommen und dem Mann zu vergeben, der ihn angefahren hatte. So jedenfalls hatte ihre Mutter es ihr immer erzählt. Wenige Tage später platzte das Aneurysma, das die Ärzte übersehen hatten.
Alles, was wir sind, sind wir, weil Gott es so wollte.
Herr, ich flehe Dich an, bitte, gib mir eine Antwort!
79
A 6, vor Brüssel
Vorbei, dachte Karen. Ich bin zu spät. Linh. Das kleine Mädchen ist tot. Gibbs hatte beide Vorderbeine gegen das Armaturenbrett gestemmt, eine kämpferische Pose, als wollte auch er es nicht glauben.
Sie hatten es gerade im Radio gebracht: Lieferwagen mit Aerosolbehältern gefunden. Im Zentrum von Brüssel.
Ob auch Lan Peyroux die Nachrichten gehört hatte? Es muss ja nicht Linh sein, hörte sie ihre Hoffnungsstimme sagen. Natürlich nicht, aber dennoch: Was war mit Linh geschehen? Was würden sie mit ihr machen?
In dem Augenblick meldete sich Lanzelot . Schon wollte sie Nyström mit Fragen bombardieren, als sie Lees Stimme erkannte.
»Nyström musste untertauchen«, sagte er.
Warum, wo ist er, wollte sie fragen, aber Lee redete schon weiter.
Lanzelot habe mit vielen technischen Tricks das Kennzeichen des Autos identifiziert, das an jenem Abend, als Michael weggegangen war, vor ihrem Haus gestanden hatte. Ein Porsche, zugelassen auf Hans-Peter Roth, Inhaber und Geschäftsführer von HP Roth Consulting in Brüssel. Er müsse sich unglaublich sicher gefühlt haben, sonst hätte er seinen Wagen wohl kaum so nah vor dem Haus geparkt.
» HP Roth Consulting . Die Firma arbeitet der Europäischen Verteidigungsagentur EDA zu. Die EDA hat den Auftrag, den Europäischen Rat und die Mitgliedstaaten hinsichtlich Verteidigung und Krisenbewältigung zu unterstützen. Die EDA legt den Bedarf an Waffen der EU fest, koordiniert die Rüstungsaktivitäten und Anschaffungen der Mitgliedstaaten und beteiligt sich mit einem Teil ihres Budgets an der Rüstungsforschung. Immerhin ist das Jahresbudget seit der Gründung der EDA 2004 von knapp zwei Millionen auf über einunddreißig Millionen Euro angestiegen. Bist du noch dran?«
»Ja.« Sie fühlte sich merkwürdig abwesend. In ihren Gedanken war sie mit der Frage beschäftigt, warum Nyström untertauchen musste – und was geschehen würde, wenn man ihn festnähme. Und sie dachte an Linh und hoffte, dass die Polizei sie längst gefunden hatte.
»Hat sich in wenigen Jahren sozusagen verfünfzehnfacht«, hörte sie Lee sagen. »Und jetzt wird es interessant: Geleitet wird die EDA vom Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Roths direkter Ansprechpartner ist der Geschäftsführer der EDA, Dr. Jürgen Koch, ehemaliger Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium. Ich hab hier einen netten Schnappschuss. Koch und Roth in entspannter Atmosphäre bei einem Bier.
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