Das Syndikat
über den Zwischenfall in Grenoble unterrichtet worden war, während er seine Leute beobachtete, eine Spezialeinheit der belgischen Armee, die in Schutzanzügen und Atemmasken den Abschnitt des Boulevard Anspach mit dem blauen Lieferwagen einer Installationsfirma weiträumig abriegelte, wenn auch nicht weiträumig genug, um im Ernstfall eine Kontaminierung der Bewohner zu verhindern. Aber in der Öffentlichkeit muss unbedingt der Eindruck entstehen, als hätten wir die Lage im Griff, dachte van Ostaijen. Als Erstes fanden seine Spezialisten der Abteilung Minen-und Bombenentschärfung den Stahlbehälter. Und jetzt sahen sie sich drei Druckbehältern gegenüber, Pressluftflaschen für Taucher nicht unähnlich.
In diesem Augenblick wurde van Ostaijen über Funk von der Explosion eines Sprengsatzes im Eingangsbereich des Gare Central unterrichtet. Panik sei ausgebrochen. Bevor die Sondereinheit Biowaffenanschläge eingetroffen war und eine Evakuierung beziehungsweise eine Abriegelung des Gebäudes vornehmen und die Betroffenen in Quarantäne bringen konnte, seien die Menschen schon in alle Richtungen geflohen.
Wenn die alle kontaminiert sind, haben wir ein Problem, dachte van Ostaijen. Ein ernstes Problem – und keine Lösung.
Zum ersten Mal in seinem dreiunddreißigjährigen Berufsleben fühlte er sich vollkommen machtlos.
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Sechs Stockwerke unter seinem Apartment hörte Roth Polizei- und Krankenwagensirenen, dazwischen lautes und hektisches Hupen. Autos rasten vorbei. Die kleine Explosion am Gare Central war ein guter Einfall gewesen, dachte er zufrieden.
Jetzt würde man die Drohungen des Glühenden Halbmondes wirklich ernst nehmen. Ein paar Pesttote waren doch ein überzeugendes Argument.
Wenig später war die Meldung auf allen Radio- und TV-Kanälen zu hören und zu sehen, und natürlich auch im Internet:
Explosion in Brüssel. Pestbakterien!
Massenpanik bricht aus. Tausende bereits kontaminiert?
Auch Pestbakterien auf europäischen Flughäfen? Anschläge in allen europäischen Großstädten befürchtet.
Ansturm auf Impfzentren in ganz Europa.
Die gesamte Stadt hätte abgeriegelt, die Flughäfen hätten gesperrt werden, und man hätte sofort eine strenge Ausgangssperre verhängen müssen, dachte Roth, doch all das geschah viel zu langsam und unkoordiniert.
Aber Impfzentren waren innerhalb kürzester Zeit errichtet worden. Das hatte funktioniert.
Er steckte die Pistole in den Hosenbund und zog den weißen Pullover darüber. Sicher ist sicher, dachte er. Am Ende soll schließlich nichts mehr schiefgehen. Gleich würde er seine Geschenke in Empfang nehmen. Wie sich die Narbe auf ihrer Wange unter seinem Finger wohl anfühlen würde?
Und der Kleinen würde er erst mal einen Kakao machen. Er lächelte. Er mochte Kinder. Kleine Mädchen ganz besonders. Mit ihnen musste man zärtlich und behutsam sein. Ganz anders als mit großen.
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Grenoble
Jedes Mal, wenn Cortot es schaffte, durch den schmalen Schlitz zwischen den geschwollenen Augenlidern zu sehen, kam es ihm vor, als liege er eingeschlossen in einem Kristall, so verschwommen und so weit entfernt nahm er die Menschen und Geräte außerhalb des Quarantänezelts wahr.
So schnell hatte sich sein Leben verändert. Er hatte Dinge getan, die es bald beendeten. So bald. Nannte man das nicht Gerechtigkeit?
Es gab Verbrecher, die sich nach einem Geständnis und nach ihrer Verurteilung besser fühlten, das hatte er nie verstanden. Bis jetzt. Und, seltsam, er spürte, dass Gott seinen Blick auf ihn geworfen hatte, dass er wichtig war, dass es nicht gleichgültig war, was er getan hatte.
Er schloss die Augen.
»Wir nehmen einen anderen Weg hinauf«, hatte er gesagt.
Peyroux hatte nur kurz gezögert und war dann seinen Anweisungen gefolgt. Auf der Fahrt hatte er ihr seinen Plan erklärt, und sie hatte genickt, ja, sie würde mitmachen, sie würde alles tun, um Linh zu retten. Ohne Wenn und Aber, hatte sie noch hinzugefügt und ihm dabei fest in die Augen gesehen.
Die Idee war ihm ganz plötzlich gekommen, und während sie die gewundene Bergstraße hinaufgefahren waren, hatte er mehrmals seine Angst hinunterschlucken müssen.
Beim Aussteigen hatte sie gesagt – daran erinnerte er sich genau: »Cortot, wir beide wissen, es lässt sich nicht vermeiden, dass wir einen Teil des Aerosols einatmen. Sie sind nicht geimpft.«
Er hatte genickt, und dann hatte sie dankbar seinen Arm gedrückt. Dieser Augenblick, diese Geste war es gewesen, die ihn fast zum Weinen
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