Das Syndikat
Scarafia zurück in ihr Büro.
Exhumierungen? Nein, damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden. Mit welchem Grund, liebe Kollegin? Es sind doch korrekte Totenscheine ausgefüllt worden, oder nicht? Schlaganfall oder Herzinfarkt kommen nun mal auch bei jüngeren Menschen vor, ganz besonders bei denen, die gefährlich gelebt haben, hab ich nicht recht, Frau Kollegin? Möglicherweise haben sie nach ihrem Einsatz Medikamente genommen, Antidepressiva vielleicht oder sogar Drogen. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass Soldaten so was schlucken. Nein, keine Exhumierungen! Und alles andere ist Sache der zuständigen Polizeibehörden. Nein, liebe Kollegin. Nein. Auf ihrem Tisch liegen genügend andere Akten, unsere Behörde erstickt in Arbeit, das wissen Sie genauso gut wie ich, nicht wahr, liebe Anna?
Doch Anna Scarafia war nun mal Anna, der Bullterrier, und der hatte sich festgebissen. Sie wollte Ashleys Job. Und Ashley wollte sich nicht in die Nesseln setzen, das war ihr klar geworden. Vor irgendetwas hatte er Angst, vor komplizierten Verwicklungen oder wer weiß, wovor noch, sie konnte es an seinem viel zu häufigen Augenzucken und an seinem ausweichenden Blick ablesen.
Plötzlich hatte sie eine Idee. Und die roch nach Lederjacke und einem betörenden Rasierwasser. Und die hatte auch einen Namen: Fabio Izquierdo, seit fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei in Brüssel. Erst bei der Sitte, dann bei den Drogen und inzwischen beim Mord. Einer der wenigen Männer, mit denen der Sex reizvoll gewesen war. Bei Fabio fühlte sie sich als ... als Beute. Ein Gefühl, das sie durchaus genießen konnte ... Ach, was hatte sie schon wieder für Gedanken! Ruf ihn endlich an.
»Anna?« Er klang freudig überrascht, auch wenn ihr seine Stimme noch knarzender vorkam als vor einem halben Jahr. Dabei hatte er doch das Rauchen aufgeben müssen.
»Alles in Ordnung bei dir?«
»Klar. Wie komme ich zu der Ehre?«
Er klang müde, aber darauf wollte sie jetzt nicht näher eingehen. Mitfühlen war definitiv nicht ihre Sache.
»Ich brauche deine Hilfe. Inoffiziell.«
»So?«
»Ich wusste, dass du mich verstehst. Oberst Grévy.«
»Aha.«
»Er hat in Brüssel gewohnt.«
»Ja ...«
»Wird sein Tod immer noch als Selbstmord behandelt?«
»Wie meinst du das?«
»Oh ...« Und dann erzählte sie ihm, was die Journalistin ihr berichtet hatte. »Ich würde gern ein bisschen mehr über ihn wissen. Und ... ich denke, ich könnte es einrichten, dass ich nach Brüssel komme.«
»Das klingt gut.«
»Zum Abendessen zum Beispiel ...«
Sie hörte ihn leise lachen. »Ruf mich an, wenn du da bist.«
Zufrieden und zugleich angenehm angeregt lehnte sie sich im Sessel zurück. Dann verteilte sie die noch zu erledigende Arbeit an ihre Mitarbeiter und ließ sich ein Zugticket nach Brüssel buchen.
Im Auto zündete sie sich endlich eine Zigarette an, fuhr aber noch nicht los. Minuten der Kontemplation folgten, der Ehrlichkeit mit sich selbst. Seit einiger Zeit bemerkte sie bei sich selbst ein zunehmendes Misstrauen gegenüber den herrschenden Gesetzen. Als würde in ihrem Innern etwas wachsen, das dort nicht sein durfte, eine Pflanze, die man sofort mit der Wurzel ausreißen musste. Mein Gott, Anna – hörte sie Édouard sagen –, das ist sehr bedenklich. »Da hast du ausnahmsweise recht, mein Lieber«, murmelte sie und blies den Rauch bewusst langsam aus. »Ich weiß nicht, wohin das führt ... Ich will auf jeden Fall Ashleys Job.«
39
Metz
»So viele Bilder ...« Marie Traessart betrachtete die über den Monitor rasenden Bilder, als dürfe ihr nichts, aber auch gar nichts entgehen, als könnte sie durch die Erinnerung an die schönen Momente all das Böse vertreiben. »Sehen Sie, da, die Kinder, da waren sie noch ganz klein ...«
Karen nickte hin und wieder.
»Dürfte für Hacker wie euch doch kein Problem sein«, hatte sie vorhin am Telefon gesagt. Nein, war es auch nicht. Karen war mit Marie Traessart wieder nach oben gegangen, während Nyström ein Programm auf Thierrys Computer geschickt hatte, das die Dateien nach Porträtfotos scannte.
Da, da war es. Karen hielt den Scan an. Thierry hatte tatsächlich noch ein zweites Foto dieses Mannes an der Giebelwand – allerdings nicht selbst aufgenommen, sondern aus dem Internet heruntergeladen. Sie musste nur noch die entsprechende Internetseite aufrufen. Der Mann hieß Dr. Paul Cortot, er hatte als Mitarbeiter des CRSSA am 12. Oktober auf einem Kongress über die französische
Weitere Kostenlose Bücher