Das Syndikat
mit deinen Talenten.«
Nein, sie durfte die Zügel nicht locker lassen. Erst recht nicht als alleinerziehende Mutter. Sie trug schließlich die ganze Verantwortung.
Lan Peyroux setzte sich hinters Steuer, schaltete die Heizung auf die höchste Stufe, fuhr los und fädelte sich in den Verkehr ein. Vorsichtig, denn in der Nacht hatte es wieder geschneit, und jetzt lag dank der Streufahrzeuge glitschiger Schneematsch zentimeterdick auf der Fahrbahn. Sie bremste, fuhr wieder an. Stop and go, wie jeden Morgen auf der Strecke von ihrer Wohnung nach La Tronche, der Sechstausend-Seelen-Gemeinde mit dem CRSSA ...
Für Nguyen Thi Lan war ein Traum in Erfüllung gegangen, als sie 1991 zu den ersten vietnamesischen Stipendiaten gehörte, die gleich zu Beginn der französischen Bemühungen um eine Annäherung an die einstige Kolonie für ein Studium in Frankreich ausgewählt wurden. Ihre Mutter war stolz. Und ihr Vater schließlich auch, nachdem er sich damit abgefunden hatte, dass sie sich mit der früheren Kolonialmacht verbündete. Lan war glücklich. Sie ließ keinen Kurs ausfallen, schleppte sich ganz selbstverständlich mit Virusgrippe und hohem Fieber ins Seminar, lernte jeden Abend, ging nur samstagabends aus – und das auch nur, weil sie begriff, dass sie, wenn sie in Frankreich bleiben wollte, auch Kontakte knüpfen musste. Kontakte zu einflussreichen Personen an den Universitäten oder in Unternehmen. Denn eines wusste sie ganz genau: Sie wollte nicht wieder zurück. Sie wollte in diesem gemäßigten Klima leben, wo es keine Moskitos gab, wo alle Straßen gepflastert waren, wo alles so sauber und aufgeräumt war, wo man nicht dauernd schwitzte, wo man in den Häusern die Heizung aufdrehte, damit sich eine angenehme Wärme verbreitete, wo es sauberes Wasser gab.
Als überragende Studentin – und als nicht gerade unattraktiv, wie sie selbst fand – wurde sie mit Angeboten überhäuft. Schon während des Biochemie-Studiums war ihr klar geworden, dass die Zukunft in der Mikro- und Nanotechnologie lag. Darauf konzentrierte sie sich, wählte aus den Angeboten ein Unternehmen aus, wurde eingestellt, sammelte Wissen, Erfahrung und neue Kontakte, wechselte zu einem Biotech-Unternehmen, sammelte wieder Wissen und Kontakte, bis sie ihr selbstgestecktes Ziel erreicht hatte: für die französische Regierung zu arbeiten.
War um?
Endlich fühlte sie sich gleichwertig. Nicht mehr als Mensch zweiter Klasse, weil sie in einem Land wie Vietnam geboren war. Ein wenig empfand sie es auch als Wiedergutmachung Frankreichs, wobei sie wusste, dass man die drei Millionen Todesopfer, die der Vietnamkrieg gefordert hatte, nicht wiedergutmachen konnte, ganz sicher nicht mit einer Stelle im Verteidigungsministerium. Wahrscheinlich war es also doch nur ein persönlicher Triumph. Und ihr war klar: Sie wollte sich nie wieder einengen lassen, wollte sich nie wieder sagen lassen, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie hatte es in eine andere Kultur geschafft, sie hatte einen begehrten, sicheren, gut bezahlten Job bekommen, sie war unabhängig.
Damit war Yves überhaupt nicht zurechtgekommen. Obwohl er hätte wissen müssen, was ihn erwartete: eine Ehe mit einer Frau, die sich nicht ins zweite Glied stellen ließ. Und sie, sie hätte erkennen müssen, dass er sich zwar bemühte, sie so zu akzeptieren, wie sie war, dass er es insgeheim aber gern anders gehabt hätte.
Ich arbeite für das französische Verteidigungsministerium, hatte sie zu ihrem Vater gesagt, der daraufhin erst einmal geschwiegen hatte. Sein Vater hatte gegen die Franzosen gekämpft, beide Beine verloren und war schließlich an Leberkrebs gestorben. Und was mit seiner Mutter geschehen war, darüber redete er nie, seine Schwester auch nicht, aber sie machte immerhin Andeutungen, dass im Krieg so etwas immer den Frauen passiere.
Es kam vor, dass sie nachts hochschreckte, fest entschlossen, am Morgen zu kündigen, weil sie ihren Job nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte. Denn sie beschäftigte sich tagtäglich mit dem Krieg. Damit, wie die Franzosen ihn gewinnen würden. War das nicht absurd?
Nach der Scheidung behielt sie den Namen von Yves, denn Nguyen konnte kein Franzose aussprechen. Ihren traditionellen Zwischennamen strich sie und stellte ihren Vornamen Lan, wie in der westlichen Welt üblich, an die erste Stelle des Namens. Lan Peyroux klang in ihren Ohren ziemlich französisch.
War sie deshalb eine Verräterin?
Und wenn schon? Verräter waren frei. Sie
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