Das Syndikat
nicht sehen, ob die Männer drin saßen. Und wenn es doch ein anderes Auto war?
Sie sah auf die Uhr. Sie musste los, wenn sie nicht zu spät zum Meeting kommen wollte. Für eine Laborleiterin machte es sich nicht gut, unpünktlich zu sein. Außerdem widerstrebte es ihr, undiszipliniert zu wirken. Schließlich verlangte sie von ihren Mitarbeitern absolute Disziplin.
Sie stieß zurück und wendete. Im Rückspiegel sah sie ihre Tochter mit drei anderen Kindern durchs Schulhoftor gehen. Der Lieferwagen rührte sich nicht von der Stelle.
»Na und?«, murmelte sie, aber sie meinte es nicht so.
Sie fuhr los. Nur wenige Minuten später erreichte sie die Avenue du Maréchal Randon, sie fuhr über den Fluss und folgte der Straße in die Avenue Maquis du Grésivaudan in La Tronche. Keine Spur mehr von dem Lieferwagen. Genau um 8 Uhr 20, wie sie auf der Digitalanzeige auf dem Armaturenbrett feststellte, rollte sie auf das Tor mit der Sicherheitsschranke zu.
Obwohl die Wachleute sie kannten – heute hatte wieder der Farbige mit dem ernsten Blick Dienst – ließ sie wie immer die Scheibe herunter und hielt ihm ihren Firmenausweis entgegen. Er nickte, ohne zu lächeln. Die Schranke öffnete sich, und sie fuhr auf das ehemalige Militärhospital zu, in dem jetzt das Centre de Recherches du Service de Santé des Armées, kurz CRSSA, untergebracht war.
Die biomedizinischen Forschungen, die dort betrieben wurden, dienten der Gesundheitsvorsorge und dem Schutz der Streitkräfte, hieß es offiziell und nach außen, obwohl die Bevölkerung kaum etwas von diesem Institut wusste – und noch weniger, was man dort in Wirklichkeit machte. Es hätte die Menschen beunruhigt. Die Demonstrationen konnte sich Lan schon vorstellen, wenn bekannt würde, dass dort, fast mitten in der Stadt, mit Anthrax-, Pest- und Ebola-Erregern experimentiert wurde. Nein, offiziell ging es ja gar nicht um Biowaffen.
Ihr Parkplatz lag direkt am Eingang des Gebäudes. Sie schnallte sich los, zog den Schlüssel ab, griff die Mappe vom Beifahrersitz, machte die Tür auf und stieg aus. Zweimal verbot sie es sich, ein drittes Mal schaffte sie es nicht mehr, und so drehte sie sich um und hielt Ausschau nach dem weißen Lieferwagen. Aber da war keiner. Du hast dich geirrt. Es war ein Lieferwagen wie tausend andere auch.
Rasch schloss sie die Tür hinter sich.
52
Belgien, bei Spa in den Ardennen
Das alte Schloss – ein länglicher Bau mit zwei verspielten Ecktürmen mitten in der grünen, jetzt schneeweißen Hügellandschaft der Ardennen – hatte seine besten Zeiten hinter sich, das wusste er selbst. Heute wirkte es nicht mehr sonderlich pompös. Dazu hätte es einer umfangreichen Restaurierung bedurft, vor allem der Fenstersimse, Fensterläden und des Dachs, eines neuen Anstrichs natürlich auch. Abgesehen davon, dass das Zurschaustellen von Prunk und Protz nicht seine Sache war, hasste Baron Gustave Dubois die Vorstellung, monatelang von lärmenden Maschinen und überall herumlaufenden Handwerkern umgeben zu sein. So schnell er in geschäftlichen Angelegenheiten entschied, so sehr zögerte er solche hinaus, die sein privates Umfeld betrafen. Viele hielten ihn für geizig, mit achtzig Milliarden in so einem alten Kasten zu wohnen und nur einen Bentley und einen alten VW Käfer zu besitzen. Da musste man doch geizig sein! Na und? Wahrscheinlich war er geizig. In gewisser Hinsicht. Noch nicht mal der Helikopter gehörte ihm, mit dem Emerson gleich einschweben würde.
Er war in dem Bewusstsein erzogen worden, sparsam zu leben, und er liebte die alten Zeiten, sie waren sein Anker, seine Wurzel, und nur was eine tiefe und solide Wurzel hatte, konnte auch groß und kräftig wachsen. Allerdings hatte er aufgegeben, diese Überzeugung anderen mitzuteilen, wer verstand das denn noch? Heute nahm man sich keine Zeit mehr. Heute zählte nicht mehr die Wurzel, nur der höchste Baum, egal, wie wacklig er stand.
Die Erinnerung war die einzige Sentimentalität, die er sich zugestand, denn er war ein durch und durch pragmatisch denkender und handelnder Mensch. Seine Leidenschaft war einzig und allein das Geldmachen, wer weiß, vielleicht hatte das ja auch etwas mit Geiz zu tun. Schon als Kind, daran dachte er immer wieder, hat er jedes Stückchen Metall aus der Erde oder aus irgendwelchen Trümmerhaufen gepult und seinem Vater gebracht, der ihm irgendwann etwas dafür gezahlt hatte, dann hatte er im Lebensmittelgeschäft seines Onkels zu einem Vorzugspreis Limonade gekauft
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