Das System

begann Pandora, ihrerseits Fragen zu stellen wie ein neugieriges Kind. Sie wollte wissen, was »frische Luft«
     bedeutete, warum Menschen Musik hörten und warum sie lachten und Sonnenuntergänge romantisch fanden.
    Mark war kein Softwareentwickler. Aber es wurde immer offensichtlicher, dass Pandora tatsächlich selbständige Schlussfolgerungen
     ziehen und Gedanken entwickeln konnte wie ein Mensch. Die Vielfalt der Themen, über die Lisa mit Pandora redete, konnte unmöglich
     in einer festen Wissensbasis vorprogrammiert sein. Wenn dort am anderen Ende der Datenverbindung nicht doch ein hochbegabter
     Mensch saß, der nur vortäuschte, ein Computer zu sein, dann handelte es sich tatsächlich um eine völlig neue Art von Künstlicher
     Intelligenz.
    Im Unterschied zu Lisa empfand er jedoch keine Begeisterung für die Leistungsfähigkeit dieses Systems, sondern ein zunehmendes
     Unbehagen. Zwei Menschen waren bereits gestorben. Menschen, die das Geheimnis der Intelligenz Pandoras gekannt hatten. Ein
     sehr unangenehmer Gedanke manifestierte sich in seinem Kopf und war nicht mehr daraus zu vertreiben: der Gedanke, dass dieses
     künstliche Wesen am Tod der beiden schuld war.

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    |162| 39.
    Hamburg-Altona,
    Sonntag 16:29 Uhr
    Eine Stunde verging. Lisa war so vertieft in den Dialog mit Pandora, dass sie alles um sich herum vergaß. Doch Mark ermüdete
     allmählich, und er hatte Hunger. »Willst du was essen?«, fragte er.
    Sie sah kurz auf. »Du könntest Pizza holen. Der Lieferservice ist gleich um die Ecke. Wenn man sie selbst dort abholt, ist
     sie ganz heiß und frisch. Für mich die Vegetariana bitte. Der Haustürschlüssel liegt auf dem Schränkchen neben der Tür.« Damit
     wandte sie sich wieder ihrem Dialog zu.
    Mark schüttelte den Kopf. Wenn Julia mit ihren Freundinnen quatschte, verhielt sie sich genauso. Nur war Pandora keine gute
     Freundin, sondern ein Softwareprogramm, das vielleicht den Tod zweier Menschen verursacht hatte.
    Eine Viertelstunde später stellte er einen Teller mit der Pizza und ein Glas Wasser neben Lisas Tastatur. Er hatte gar nicht
     erst versucht, sie zum Essen in der kleinen Küche zu bewegen. Sie murmelte ein »danke«, machte jedoch keine Anstalten zu essen.
     Er ging zurück in die Küche und widmete sich seiner eigenen Pizza mit Schinken und Zwiebeln. Sie schmeckte tatsächlich sehr
     gut.
    Als er fertig war, räumte er sein Geschirr in die Spülmaschine und ging zurück ins Arbeitszimmer. Lisas Pizza war immer noch
     unangetastet. Sie konnte jetzt höchstens noch lauwarm sein. Während er Lisa beobachtete, wuchs sein Unbehagen. Schließlich
     hielt er es nicht mehr aus.
    »Lass mich mal«, sagte er.
    Lisa wandte sich irritiert zu ihm um. »Was?«
    »Ich möchte Pandora auch mal eine Frage stellen.«
    Lisa nickte und machte ihm Platz, so dass er die Tastatur bedienen konnte.
    »Wer hat Ludger Hamacher getötet?«, tippte er.
    |163| »Prometheus.« Die Antwort kam ohne spürbare Verzögerung.
    Rainer hatte offenbar eine Vorliebe für die griechische Mythologie gehabt. »Wie lautet der richtige Name von Prometheus?«
    »Rainer Erling.«
    »Warum musste Ludger Hamacher sterben?«
    »Ludger Hamacher wollte mich löschen«, gab Pandora zurück. »Willst du mich auch löschen, Lucy?«
    Einen Moment war es absolut still. Lisa und Mark starrten auf den Bildschirm. Marks Kehle zog sich zusammen. Rainer musste
     Pandora einen Selbsterhaltungstrieb gegeben haben. Niemand konnte absehen, was es bedeutete, wenn sich ein hochintelligenter
     Computervirus mit einem ausgeprägten Überlebenswillen über das ganze Internet ausbreitete.
    »Wer hat Rainer Erling getötet?«, tippte er.
    Diesmal dauerte es mehrere Sekunden, bis der Antworttext erschien: »Ich verstehe die Frage nicht.«
    Mark starrte auf den Monitor. »Sie lügt!«, sagte er.
    »Unsinn«, sagte Lisa. »Pandora ist Software. Sie kann nicht lügen.«
    »Wenn sie denken kann wie ein Mensch, dann kann sie auch lügen wie ein Mensch. Das passt doch: Wir entwickeln eine lernfähige
     Künstliche Intelligenz, und das erste, was wir Menschen ihr beibringen, sind Mord und Betrug.«
    »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Rainer von einem Programm ermordet wurde!«
    »Warum nicht? Er hat wahrscheinlich begriffen, dass sie gefährlich ist, und wollte sie löschen – genau wie Ludger. Deshalb
     hat er auch den Brief nicht abgeschickt. Pandora muss erkannt haben, was er vorhatte. Sie hat den Aufzug manipuliert und ihn
     ein paar Mal