Das Tagebuch der Eleanor Druse
Endlich eins zu sein mit der Natur und dem gesamten Universum war immer mein höchstes Ziel gewesen. Die Medikamente hingegen bewirkten, dass mein Inneres durch eine Art neurochemischer Luftpolsterfolie vor den Angriffen der Außenwelt abgeschirmt wurde. Ich empfand vor allem Ruhe, vielleicht sogar Frieden und hatte das Gefühl, dass mir am wenigsten geschehen konnte, wenn ich nichts oder zumindest so wenig wie möglich tat. Und ein verringertes Risiko bedeutete wiederum größere Chancen, dass der angenehme Status quo erhalten blieb.
Die Professorin in mir empfand die Tabletten als ideal für mittelmäßige Studenten, denn sie würden ihnen jegliche Eitelkeit, Unzufriedenheit und damit auch das Bedürfnis nehmen, ihre Noten unbedingt verbessern zu wollen. Auf der anderen Seite hätten sie aber auch keine Angst mehr, durch schlechtere Leistungen möglicherweise das Semester nicht zu schaffen. Das Scyllazin würde sie mit ihrem Mittelmaß vollauf zufrieden sein lassen, und somit hätte das Medikament eine perfekte Wirkung gezeigt.
In mir jedenfalls herrschte schon seit mehreren Tagen die reinste Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung, und mir wurde klar, dass ich nur jeden Tag eine Tablette nehmen musste, um mein weiteres Leben in einer Art ausgeglichenem Schwebezustand zu verbringen, in dem ich weder richtig traurig noch richtig fröhlich war. Und so war es den Ärzten wieder einmal gelungen, eine verrückte alte Schachtel, deren Behandlung enorm viel Zeit in Anspruch nahm, auf einfache Weise ruhig zu stellen. Die notorische Unruhestifterin Mrs. Druse hatte sich wie eine Auster zufrieden in ihre Schale zurückgezogen, und ihre Krankenversicherung würde auch noch brav die Rechnungen dafür bezahlen.
INSTANT KARMA
Bald waren meine Tage ein einziger Einheitsbrei: trüb, verschwommen und ewig gleich. Einer ging nahtlos in den anderen über. Man hatte mich wiederholt ermahnt, die Medikamente regelmäßig einzunehmen und den Anweisungen des behandelnden Arztes Folge zu leisten, weil meine Krankenversicherung andernfalls möglicherweise nicht für die Kosten der gesamten Behandlung aufkommen würde. Ich beschloss, die Tabletten so lange zu nehmen, bis ich in allen Ehren aus dem Boston General entlassen wurde. Einmal hörte ich sehr früh am Morgen, wie sich Tiffany und Jennifer hinter dem Vorhang kichernd über einen Dr. Stegman unterhielten.
Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, von wem sie sprachen, was möglicherweise auch eine Nebenwirkung der verflixten Tabletten war. Ich kannte diesen Namen, Stegman, aber ich wusste nicht mehr, woher und weshalb. Plötzlich wurde mir irgendwie mulmig, so, als wäre im Bereich des zweiten Chakras (Unterleib und Lendenwirbelsäule) auf einmal der Energiefluss blockiert. Allein schon der Name Stegman beraubte mich meiner positiven Energie und Lebenskraft, noch bevor ich mich überhaupt daran erinnern konnte, zu welchem Menschen er gehörte.
Aus dem, was ich vom Geplapper der Schwestern mitbekam, reimte ich mir zusammen, dass sie früher als gewohnt gekommen waren, um Nancy heute auch die Haare zu waschen und mit einem blauen Band zusammenzubinden. Sie unterhielten sich flüsternd über die Hefepilz-Infektion im Mund der armen Frau, die Jennifer als Soormykose bezeichnete. Abwechselnd betupften sie die befallenen Stellen mit Methylen-Blau. Offenbar gingen sie davon aus, dass ich entweder senil, taub oder so voll gepumpt mit Medikamenten war, dass ich sie nicht hören konnte, denn sie flüsterten sich ständig Dinge zu wie »Ist das eklig!«, »Igitt« oder »Mir wird gleich schlecht, mach du das mal«. In ähnlicher Weise ging es weiter, als sie die Druckgeschwüre der armen Frau versorgten und ihr einen neuen Katheter sowie eine frische Magensonde legten und ihre Hände wieder mit Baumwollbändern an die Bettgitter fesselten.
Gegen Ende der Prozedur hörte ich abermals den Namen Stegman und erfuhr den Grund, weshalb Nancy Conlan an diesem Morgen mit allem Drum und Dran generalüberholt wurde. Stegman wollte Nancy im Rahmen der Chefarztvisite einer Gruppe von Ärzten präsentieren. Man würde sie allen möglichen Untersuchungen und Tests unterziehen, um herauszufinden, ob sie sich tatsächlich in einem irreversiblen Zustand befand, den Mediziner als permanent vegetativen Status oder apallisches Syndrom bezeichneten. Eine solche Diagnose würde es der Familie in Absprache mit dem Krankenhaus und Nancys Ärzten ermöglichen, sie nicht weiterhin künstlich ernähren zu
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