Das Tagebuch der Eleanor Druse
Todesurteil gleichkam.
Es fing damit an, dass ich Blut im Urin hatte, und schließlich stellte Dr. Crabb bei mir ein Nierenzellkarzinom fest – eine drei Zentimeter große Geschwulst in meiner rechten Niere, die bereits mehrere münzgroße Metastasen in meiner Lunge gebildet hatte. Dr. Crabb schlug vor, die Niere operativ zu entfernen, was allerdings eine rein palliative Maßnahme sei, denn die Metastasen in der Lunge seien nicht mehr behandelbar. Sie riet mir, nach der Operation nach Hause zu gehen und zu regeln, was es zu regeln gab, denn die durchschnittliche Lebenserwartung von Patienten mit einem Nierenzellkarzinom des Stadiums IV sei weniger als ein Jahr.
Meine Chance, noch zwei Jahre zu leben, läge gerade mal bei acht Prozent.
Dr. Crabb zeigte mir sogar eine Grafik, in der die Wahrscheinlichkeit, verschiedene Stadien von Nierenkrebs um zwei Jahre zu überleben, dargestellt war. Dort, wo die Kurve die Linie des Stadiums IV schnitt, hatte sie mit Bleistift ein kleines Kreuz gemacht. Es lag näher bei der Sieben als bei der Acht.
Ich ließ sie die Niere entfernen, aber danach fing ich sofort mit meiner Selbstbehandlung an. Ich ernährte mich streng makrobiotisch und bekämpfte den Krebs in meiner Lunge mit einer täglichen Visualisationsübung, bei der ich meinem Immunsystem den Befehl gab, die bösartigen Zellen zu zerstören.
Eines Nachts war ich tief im Gebet versunken und – ich gebe es zu – erfüllt von einer panischen Angst, dass Gott mich mit seinem Finger berühren und zu sich rufen würde – mich, eine allein erziehende Mutter, die sich um ihren siebenjährigen Sohn kümmern musste. Mein inständiges Gebet lautete damals immer: »Lieber Gott, bitte setze die Gesetze der Medizin in meinem Fall außer Kraft und lass mich leben.«
Und das war (bis vor kurzem) das einzige Mal in meinem Leben, dass ich wirklich eine Gegenwart spürte, die nicht von dieser Welt war. Sollte es Gott gewesen sein, so zeigte ER sich mir nicht in der Gestalt eines Vaters oder Engels. Ich spürte lediglich eine riesige, unsichtbare Gegenwart, die sich regelrecht über mir aufzutürmen schien, die meinen beschränkten geistigen Horizont überstieg und sich aller Versuche meines sterblichen Gehirns entzog, IHN in einer erkennbaren Form zu erahnen. Ich spürte, wie etwas von IHM sich nach mir ausstreckte und mich in der Herzgegend berührte.
Das Ende der Geschichte ist wohl ziemlich offensichtlich. Ich lebte mit einer Niere weiter, und die Metastasen in der Lunge verschwanden wie eine schlimme Erkältung. Sechs Monate später waren die furchteinflößenden weißen Stellen nicht mehr auf den Röntgenaufnahmen zu sehen. Gott hatte mich berührt, und ich durfte leben.
SOMA
Madeline Krugers letzte Worte an mich waren mir noch immer ein ebensolches Rätsel wie die Geschichte mit dem kleinen Mädchen. Was sollte das bedeuten: Es irrte immer noch umher? War wieder im Reich der Lebenden? Einer der Gründe, weshalb ich mich dazu bereit erklärte, Dr. Metzgers Tabletten zu nehmen, war meine Befürchtung, mir könne ein wichtiger Teil meines Gedächtnisses abhanden gekommen sein. Ein Haufen Gehirnzellen, in denen etwas gespeichert war, was ich vor langer Zeit einmal gemeinsam mit Madeline erlebt hatte, war offenbar nicht mehr vorhanden. War das ein Fall von Altersdemenz oder tatsächlich die zunehmenden Auswirkungen der epileptischen Anfälle, vor denen man mich gewarnt hatte? Glaubte man den Ärzten, dann litt ich möglicherweise schon seit Jahren darunter. Und jeder einzelne Anfall entlud meine Gehirnzellen und vernichtete die Datenbanken meiner Erinnerung. Und zu ihnen gehörte möglicherweise auch jenes nebulöse Böse, mit dem Madeline und ich angeblich in Berührung gekommen waren, sowie die Geschichte mit dem kleinen Mädchen, das immer noch umherirrte.
Bobby hatte mir einige Ausgaben des Lewistoner Sun Journal mitgebracht, die ich auf meinem Bett und meinem Nachttisch ausgebreitet hatte. Beim Durchblättern war mir eine Überschrift ins Auge gestochen:
»Approbationsbehörde untersucht Todesfall in Krankenhaus«
Der Artikel stand nicht auf der Titelseite, war aber am Anfang der Lokalnachrichten gut sichtbar platziert und handelte vom Tod der achtjährigen Theresa Bradley, die nach einer Routineoperation, bei der ihre Pulmonalklappe gedehnt wurde, verstorben war. Das musste das kleine Mädchen sein, von dem Bobby mir erzählt hatte, dass es in derselben Nacht wie Madeline im Kingdom Hospital gestorben war. In einer
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