Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Vollmondnacht. Am Freitag, dem dreizehnten. Ein anderer Artikel berichtete davon, dass Sarah Bradley, die Mutter des Mädchens, wegen Körperverletzung angeklagt wurde, weil sie mit einem Skalpell auf den Kinderkardiologen losgegangen war.
    Der Artikel enthielt auch Fotos von der kleinen Theresa und Dr. Edward Egas, der nicht nur mit vierzig Stichen wieder zusammengenäht werden musste, sondern auch ein Ermittlungsverfahren am Hals hatte, weil das Mädchen als Folge der Operation verstorben war.
    Ich riss die Artikel heraus und legte sie in eines meiner Notizhefte. Dann sah ich einen weiteren, der ganz unten auf der letzten Seite der Lokalnachrichten stand:
    »Defekte Liftglocke sorgt für Aufregung im Krankenhaus«
    Der Artikel beschrieb, dass mehrere Zeugen in den frühen Morgenstunden des 13. Dezembers (also in der Nacht von Madelines Tod und meiner transzendentalen Erfahrung) im Kingdom Hospital das Läuten einer Glocke gehört hätten, das während mehrerer Ereignisse, zu denen neben medizinischen Notfällen auch ein schwächeres Erdbeben gehörte, angehalten habe. Eine Krankenschwester fand dieses Dauerläuten so beunruhigend, dass sie zwei Reporter des Sun Journal sowie einen Polizisten ins Krankenhaus rief, die dort von ratlosen Angestellten zu den Aufzügen geführt wurden, wo das Läuten besonders laut zu hören war. »Es wollte einfach nicht mehr aufhören«, berichtete einer der Zeugen.
    Nachforschungen ergaben, dass es sich bei dem Läuten möglicherweise um eine Störung der Liftglocke gehandelt habe. Allerdings gaben die Aufzugmonteure vor Ort an, dass die Stromzufuhr sämtlicher Fahrstühle wegen des Erdbebens abgeschaltet worden sei und dass die Glocken ohne Strom nicht funktionieren konnten.
    Jesse James, der Verwaltungschef des Kingdom Hospital, der auch das moderne Motivationsprogramm Operation Morgenluft für die Mitarbeiter des Krankenhauses ins Leben gerufen hatte, führte das Läuten dennoch auf eine Fehlfunktion der Liftglocken zurück und meinte, die entstandene Aufregung ginge auf Arbeitsüberlastung seines Personals zurück. »Unsere Mitarbeiter im Kingdom Hospital geben ständig ihr Bestes, um für Lewiston und die umliegenden Gemeinden eine medizinische Versorgung auf höchstem Niveau sicherzustellen.«
    Ende der Geschichte. Ich aber wusste, dass dieses Glockenläuten etwas zu bedeuten hatte, dass es der Schlüssel zu den Ereignissen in jener Nacht war. Dessen war ich mir so sicher wie der Tatsache, dass ich in der Nacht, in der Madeline Kruger starb, eine Reise ins Jenseits unternommen hatte. Aber zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir das alles egal war. Ich lehnte mich in mein Kissen zurück und entschwand in die gnädigen Gefilde des Scyllazin: zweimal täglich 100 Milligramm. 
    Ich wollte es Claudia nicht sagen, aber das Medikament hinderte mich daran, mich in meine tägliche Meditation zu versenken. Wenn ich die Augen schloss und auf den Sog des starken, mir so vertrauten Stroms wartete, der das gesamte Universum durchzieht, passierte nichts. Aber ich tröstete mich damit, dass mich das überhaupt nicht kümmerte – genauso wenig wie das Glockenläuten im Kingdom Hospital. Es störte mich auch nicht, dass Liftglocken ohne Strom und die Überlastung des Personals dafür verantwortlich sein sollten und dass das niemandem seltsam vorkam.
    Die Tabletten hatten jedoch auch noch andere Nebenwirkungen. Wenn Tiffany oder Jennifer oder Nancys Angehörige ins Zimmer kamen, fühlte ich mich ungewöhnlich verzagt und unsicher, aber fand das nicht weiter schlimm. Es war, als wäre ich schüchtern, ohne Minderwertigkeitskomplexe zu haben, falls so etwas überhaupt möglich war. Das war aber nur eines der Paradoxe eines Geisteszustands, der fast ausschließlich aus Paradoxen zu bestehen schien. Sobald der Wirkstoff im Stoffwechsel seine volle Konzentration erreicht hatte, fühlte ich mich unfähig, ja außerstande, irgendetwas zu tun oder zu sagen, empfand diesen Zustand aber nicht als unangenehm. Ich war zwar nicht glücklich oder fröhlich, aber auch nicht besorgt. So, als wären Denken oder Tun nicht der Mühe wert, weil Taten nur dazu führen konnten, dass ich unsicher wurde und sie später bereute.
    Ich fühlte mich, als hätte man mich stoßsicher zwischen Styroporkügelchen verpackt und so von den Einflüssen der Außenwelt abgeschirmt. Und damit erlebte ich genau das Gegenteil jenes ganzheitlichen Zustands der Erleuchtung, nach dem ich mein ganzes Leben lang getrachtet hatte.

Weitere Kostenlose Bücher