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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Ärzte, Pfleger oder Schwestern über den Weg, die sich nach meinem Befinden erkundigten, mir alles Gute wünschten und sich freuten, dass ich wieder da war. Liz Hinton, eine der Schwestern, erzählte mir, dass mein alter Schatz Lenny Stillmach nun schon zum zweiten und vermutlich letzten Mal auf der Station Sonnenschein lag. Sein Bauchspeicheldrüsenkrebs fraß ihn innerlich auf, und seine Haushälterin konnte ihn nicht länger versorgen. Liz sagte, dass er bereits nach mir gefragt hätte. Der gute alte Lenny. Er hatte einen eisernen Willen: Nach den Diagnosen der Ärzte hätte er bereits seit sechs Monaten tot sein müssen, aber er weilte noch immer unter den Lebenden.
    Als Bobby und ich vor Ottos Pförtnerloge ankamen, wurde mein Sohn störrisch wie ein Esel. Er setzte sich vor einen der Monitore und sagte: »Geh allein rauf, Mom. Wenn du unbedingt den Seelenfrieden einer Patientin auf der Psychiatrie mit Fragen über einen Selbstmord stören willst, dann ist das deine Sache, aber ich mache dabei nicht mit. Hast du dir eigentlich schon mal überlegt, dass das vielleicht ein heikles Thema sein könnte? Schließlich hatte Laurel Dienst, als Madeline Kruger starb. Hast du das schon vergessen?«
    In Wirklichkeit wollte Bobby nur ungestört seine Pfeife rauchen, aber vor Otto wollte ich mich nicht mit ihm darüber streiten. Also überließ ich ihn seiner abstoßenden Sucht und ging zum Lift, um in den neunten Stock in die Psychiatrie zu fahren. Und Gott ist mein Zeuge, ich war wirklich wach und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Ich hatte weder Tagträume, noch spielten meine Gefühle verrückt, ich sah keine Auren und hatte auch keine Visionen von der Art, wie sie Dr. Mussolini beschrieben hatte.
    An der Rückwand der Liftkabine lehnte eine hübsche junge Frau in einem weißen Laborkittel, die ein Tablett mit Spritzen und zugestöpselten Blutproben trug. An den Seitenwänden hingen über der Wandverkleidung in Walnuss-Nachbildung große Spiegel, wie sie Innenarchitekten gerne verwenden, um klaustrophobisch kleine Räume optisch größer erscheinen zu lassen. Darunter waren Haltestangen aus gebürstetem Edelstahl angebracht. Außer der jungen Frau, die mich flüchtig anlächelte und sich dann wieder ihrer Patientenliste widmete, war niemand im Aufzug.
    Während der Fahrt kam es zu zwei seltsamen Vorfällen. Als der Lift am siebten Stock, der Pädiatrie, vorbeifuhr, glaubte ich, das leise Weinen eines oder mehrerer Kinder zu vernehmen. Ich schaute hinüber zu der jungen Laborantin, die aber überhaupt nicht reagierte. Seltsamerweise hatte ich den Eindruck, als ob das Weinen von oberhalb der Kabine käme und nicht von jenseits der Aufzugstür.
    Der zweite Vorfall war beunruhigender. Im achten Stock – also ein Stockwerk unterhalb der Psychiatrie – stieg die hübsche Laborantin aus, und niemand stieg ein, jedenfalls hatte ich niemanden bemerkt. Ich drückte aus Gewohnheit noch einmal auf die Neun, obwohl sie bereits leuchtete, und als ich wieder aufsah, stand neben mir ein klapperdürrer älterer Arzt in einem blitzsauberen, aber an den Säumen ausgefransten und altmodisch geschnittenen Labormantel – ziemlich lang, mit breiten, gestärkten Kragenaufschlägen. Auf dem Kopf trug er eine grüne OP-Haube und auf der Nase eine Brille mit dicken Gläsern. Seine knotigen, von Altersflecken übersäten Hände hatte er um ein vergilbtes, altes Merkblatt gefaltet, das folgenden Titel trug: Therapie zur Gerinnungshemmung mit Warfarin (Coumadin). Er lächelte mich an, und ich nickte ihm zu. Ich kannte den Mann, wusste aber nicht, woher. Leider konnte ich sein Gesicht nicht lange genug sehen, denn er starrte, wie manche Leute das in Aufzügen machen, mit gesenktem Kopf auf seine Füße.
    Die Tür hatte sich schon fast geschlossen, als sie mit einem plötzlichen pling! wieder aufging. Offenbar hatte draußen jemand gerade noch rechtzeitig den Knopf gedrückt. Eine somalische Familie – Mutter, Vater und zwei Kleinkinder – stieg ein, gefolgt von Elmer Traff, dem notorischen Unruhestifter unter den angehenden Fachärzten. Der ungewöhnlich junge Mann mit der Buddy-Holly-Brille auf der Nase war bekannt dafür, dass er immer wieder für Ärger sorgte.
    Ich drehte mich nach dem alten Arzt um, aber er war verschwunden.
    Natürlich wäre es durchaus denkbar gewesen, dass sich dieser Strich in der Landschaft absolut unauffällig bewegte und ich sein Kommen und Gehen gar nicht bemerkte, zumal ich mir die ganze Zeit überlegte,

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