Das Tagebuch der Eleanor Druse
jedoch befand sich drei Stockwerke unter mir und war auf dem Weg nach oben. Als die Glocke ertönte und sich die Tür öffnete, sah ich eine ganz gewöhnliche, leere Aufzugkabine vor mir, verkleidet mit imitiertem Walnussfurnier und versehen mit den altbekannten Spiegeln und Haltestangen aus gebürstetem Edelstahl.
Ohne zu zögern betrat ich die Kabine und drückte auf den Knopf für das oberste Stockwerk, wo sich nicht nur die Station Sonnenschein befand, sondern auch eine große, offene Dachterrasse, die man im Jahr 1999, nachdem einer der Traff-Brüder von dort aus in den Tod gesprungen war, vergittert hatte. Edgar Traff war in seinem zweiten Jahr als angehender Facharzt für Chirurgie, aber bereits während seines zweiten Nachtdienstes hatte er sich vom Dach gestürzt. Ollie und Danny, die in dieser Nacht Dienst hatten und gerade in der Notaufnahme waren, diagnostizierten eine »akute, schwerkraftunterstützte Betonvergiftung«, die ihn in einen blutigen Brei auf dem Gehsteig verwandelt hatte. Die Todeszeit war drei Uhr früh, also in der dunklen Nacht der Seele. Edgars Vater Louis Traff, der immer noch als Arzt am Kingdom Hospital arbeitete, hatte den Tod seines Sohnes nie ganz verwunden, denn Edgar hatte in seinem Abschiedsbrief geschrieben: »Hiermit stimme ich der Meinung meines Vaters über mich zu.« Traff senior war nichts anderes übrig geblieben, als sich niedergeschlagen unter die Eltern einzureihen, die ihre eigenen Kinder zu Grabe tragen mussten.
Jetzt ist Edgars jüngerer Bruder Eimer in der Facharztausbildung am Kingdom Hospital, und wenn ich ihn sehe, durchfährt mich ein Schauder, denn seine Augen versprühen dieselbe gestörte Energie wie die seines Bruders.
Die Tür ging zu, und ich war allein in der Aufzugkabine, die sich rasch nach oben bewegte.
Ich hörte das Brummen des Liftmotors und das leise Zischen der über Rollen laufenden Stahlseile. Und dann blieb der Aufzug auf einmal so abrupt stehen, dass die Blechplatten am Dach der Kabine schepperten und ich mir fast auf die Zunge gebissen hätte. Die Neonröhren begannen zu brummen, flackerten ein paar Mal und erloschen. Plötzlich befand ich mich ungefähr zehn Stockwerke über dem Erdboden in völliger Dunkelheit.
Stille. Dann vernahm ich ein leises Weinen, so schwach, dass ich den Atem anhalten musste, um es hören zu können. Es war eher das Flüstern einer Kinderstimme, aber ich wusste, dass ich mich dieses Mal nicht in der Nähe der Pädiatrie befand.
Angestrengt lauschte ich, um durch das Kabelschwirren und Motorbrummen der beiden anderen Aufzüge die Stimme überhaupt hören zu können. Die mechanischen Geräusche schienen mir auf einmal ungewöhnlich laut und viel näher als sonst zu sein, und als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich auch, warum das so war: Eine der Metallplatten an der Kabinendecke hatte sich verschoben.
Vermutlich war sie bei der letzten Wartung nicht richtig befestigt worden und bei dem plötzlichen Halt verrutscht, so dass ich jetzt durch einen dreieckigen Spalt in der Decke in den dämmrigen Aufzugschacht blicken und ölglänzende Kabel sowie den Schatten einer anderen Aufzugkabine sehen konnte, der über die schwach erleuchtete Betonwand nach oben glitt.
Nachdem ich gelernt hatte, die Stimme eines Mädchens von den im Schacht widerhallenden Geräuschen zu unterscheiden, erkannte ich in ihr dasselbe leidvolle und unendlich einsame Klagen, das ich schon in meinem Albtraum, meinem epileptischen Anfall oder meiner Nahtod-Erfahrung gehört hatte. Schon damals, in der Nacht, in der wir Madelines von Ameisen wimmelnde Leiche gefunden hatten, war mir das unartikulierte Elend des Mädchens so vorgekommen, als eine Verkörperung der uralten Argumente gegen eine Existenz Gottes: Kein liebender Schöpfer würde je ein Universum erschaffen, in dem Kinder so schrecklich leiden mussten. In ihrem herzzerreißenden Ton schien die Stimme immer wieder die ebenso unerträgliche wie ergreifende Frage zu stellen: Warum muss ich, ein unschuldiges Kind, so schrecklich leiden?
Auf einmal fing ein Lautsprecher so laut zu plärren an, dass mir das alte Herz in der Brust erbebte.
»Otto von der Pforte an Aufzug 2. Befindet sich jemand in der Aufzugkabine?«
Die Neonröhren brummten und zuckten, und die Hälfte von ihnen sprang wieder an und tauchte das Innere des Aufzugs in ein krankes, grünliches Licht.
Ottos Stimme kam aus einem Lautsprecher auf Kniehöhe, zu dem auch ein Telefonhörer gehörte. Ich
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