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Das Tagebuch der Eleanor Druse

Das Tagebuch der Eleanor Druse

Titel: Das Tagebuch der Eleanor Druse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Goes’ schwafelte. Bei solchen Gelegenheiten kam es mir dann meistens so vor, als wären Lenny und ich zwei Felsen im Fluss des Lebens, die sich über die zwischen ihnen hindurchrauschenden Wassermassen hinweg ansahen und sich fragten: Warum ist aus uns beiden eigentlich nichts geworden? Warum bist du bloß mit diesem egozentrischen Spinner zusammen? Wovon redet der oder die überhaupt?
    Leonard Stephen Stillmach wurde am 13. April 1920 in Sheboygan im Bundesstaat Wisconsin geboren. Als er aus der Highschool kam, wurde das Land noch immer von der Großen Depression wie von einem schlimmen Katzenjammer gebeutelt. Die Zeiten waren hart, und Jobs gab es so gut wie keine. Zwei Jahre lang arbeitete er als Lastwagen-und Planierraupenfahrer im Civilian Conservation Corps, einem öffentlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm, bevor er sich 1940
    für sechs Jahre bei der U. S. Navy verpflichtete. Nach einer zehnwöchigen Grundausbildung in der Great Lakes Naval Base kam er auf den vor Mirror Island an der kalifornischen Küste stationierten Zerstörer USS Tacker, der später nach Pearl Harbor auf Hawaii verlegt wurde. Dort erlebte er, inzwischen 21 Jahre alt und Seaman First Class, am 7. Dezember 1941 den Überraschungsangriff der Japaner auf die amerikanische Flotte mit. Zur Bedienungsmannschaft einer Deckskanone gehörend, feuerte er auf die über sein Schiff hinwegdonnernden Torpedobomber und musste mit ansehen, wie auf dem Schlachtschiff USS Arizona, das nur knapp hundert Meter von ihm entfernt explodierte und sank, über tausend seiner Kameraden ums Leben kamen.
    Danach wurde die USS Tacker im Südpazifik stationiert, wo sie im August 1942 auf eine Mine lief und unterging. Das Ende des Krieges erlebte Lenny auf Okinawa.
    Sein nächster Kampfeinsatz war im Koreakrieg, wo er am 38. Breitengrad unmittelbar vor der koreanischen Küste Dienst tat.
    Lenny blieb zwanzig Jahre lang bei der U. S. Navy, bevor er nach Lewiston zurückkehrte und sich niederließ.
    Als ich ihn jetzt mit seinem wilden, noch immer buschigen weißen Haarschopf im Bett sitzen sah, musste ich lachen. Er drückte mit konzentriertem Gesicht auf den Knöpfen der Spielekonsole herum, bis das Gerät eine Reihe von absteigenden Akkorden dudelte, die wohl signalisieren sollte, dass er verloren hatte. Daraufhin verfluchte er die Casino Queen so laut, als wäre er im Scotia Prince Casino unten in Portland, Maine, und der kleine Apparat ein richtiger Blackjack-Dealer.
    Hätten Lenny und ich je geheiratet, hätte uns das vielleicht von unserer verrückten Verliebtheit und unserer kindischen Begeisterung für alles, was Spaß macht, kuriert. Aber vermutlich hätten auch fünfzig Jahre, in denen wir Tisch und Bett miteinander geteilt hätten, nicht ausgereicht, um unsere gegenseitigen Tiefen auszuloten. Es war wohl eine der Tragödien unseres Lebens, dass es nie dazu kam.
    Nur eine Nacht. Für alle Zeit.
    Wenn seine Zeit um war, würde ich Rosenblüten über ihn streuen und ihn küssen. Lieber, guter Lenny.
    Er legte die Konsole zur Seite und schloss die Augen. Ich hielt seine Hand und beobachtete, wie sein Atem unruhiger wurde. Ein Teil von mir hätte am liebsten für immer die Augen geschlossen und sich gemeinsam mit ihm vom Acker gemacht.
    Der andere Teil fragte sich, was Lenny wohl sehen würde, wenn er seinen Körper verließ. Wartete auf ihn ein dunkler Schacht mit einem bitterlich weinenden Kind an seinem oberen Ende, wo eine bestialische Gestalt Wache hielt?

DUMM GELAUFEN
    Ich las Lenny aus den Duineser Elegien von Rilke etwas über Engel vor: dass sie nicht immer wissen, ob sie unter den Lebenden oder Toten weilen, und dass dann, wenn der gefährliche Erzengel von seinem Platz hinter den Sternen einen Schritt hinab auf uns zuträte, uns das eigene Herz erschlüge.
    Ohne Poesie kann man ein langes und erfülltes Leben führen, aber am Ende unserer Zeit hier auf Erden nimmt plötzlich alles gigantische Dimensionen an. Die Augenblicke platzen aus ihren Nähten, und Minuten, Stunden und Tage erscheinen uns wie halbe Ewigkeiten. Im Angesicht des Todes sind unsere Worte zu groß für Prosa oder seichte Unterhaltungen. Nur noch Gedichte oder Gebete scheinen angemessen. Wenn diejenigen von uns, die sich noch immer im Hamsterrad des Lebens abstrampeln, einmal versuchen, aufmerksam in ihr Inneres hineinzuhören, werden sie meistens gestört, zum Beispiel von Familienangehörigen, die sie unbedingt daran erinnern müssen, dass die Zinsen für Hypotheken gerade so niedrig

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