Das Tagebuch der Eleanor Druse
nahm ihn ans Ohr und sagte: »Ja, Otto. Hier spricht Sally Druse. Ich wollte hinauf in die Station Sonnenschein. Ich weiß nicht, was passiert ist. Der Aufzug hat einfach angehalten.«
»Immer dieser Zweier«, murmelte Otto. »Der Zweier macht immer Sperenzchen.« Es folgte ein lautes Knistern.
»Legen Sie den roten Schalter neben der Sprechanlage um, Sally«, meldete sich Otto nach einer kurzen Pause wieder.
Ich fand den Schalter, betätigte ihn und bescherte mir damit einen neuerlichen Schreck, weil das Licht wieder ausging.
»Okay, Sally, und jetzt legen Sie den Schalter wieder auf die andere Seite.«
Ich folgte seinen Anweisungen. Das Licht ging wieder an, und der Aufzug ruckelte, bevor er zitternd und schwankend seinen Weg nach oben fortsetzte.
»Es hat geklappt, Otto«, sagte ich. »Der Aufzug fährt wieder.«
»Gut.«
»Otto, als der Aufzug stand, habe ich ein kleines Kind weinen gehört. Hat Sie schon jemand anders darauf aufmerksam gemacht, dass im Aufzugschacht ein Kind weint?«
Es folgte eine längere Pause, während der nur lautes Knistern aus dem Lautsprecher drang.
»Nein«, sagte Otto schließlich. »So was hat noch keiner gemeldet. Aber ich hatte vor ein paar Tagen den Eindruck, als hätte ich ein Mädchen auf einem der Videomonitore gesehen.
Aber Dr. Hook, der kurz darauf denselben Korridor entlangging, ist nichts aufgefallen.«
Zunächst ließ diese Information mein Herz höher schlagen, aber dann hatte ich eine Vorahnung davon, was wohl passieren würde, wenn ich versuchte, die zuständigen Stellen im Kingdom Hospital davon zu überzeugen, dass es hier im Krankenhaus eine Wesenheit oder den Geist eines kleinen Mädchens gab. Man würde Otto untersuchen und dabei feststellen, dass er so gut wie blind war, und dann würde man mich in die Mangel nehmen und ziemlich rasch herausfinden, dass ich schwerhörig und bereits wegen Tinnitus in Behandlung war. Und damit wäre die Sache dann erledigt.
Nächster Fall, bitte.
Der Aufzug bewegte sich weiter nach oben, und die beleuchteten Ziffern an der Kabinenwand zeigten an, in welchem Stockwerk er sich jeweils befand.
Ich drehte mich um und blickte mir in einem der großen Spiegel tief in meine alten Augen. War das ein Anfall gewesen? Meine weit offenen Pupillen starrten zurück. War die Stimme des Mädchens nun in mir oder außerhalb von mir gewesen?
»Otto, sind Sie noch da?«, fragte ich.
»Ja, Mrs. D.«
»Otto, wenn Sie Bobby sehen, könnten Sie ihm bitte ausrichten, dass ich so schnell wie möglich so ein kleines Diktiergerät brauche? Es muss nichts Großartiges sein.«
»Wird gemacht, Mrs. D. Ich schreibe ihm schon einen Zettel.«
»Danke, Otto.«
LENNY
Die Station Sonnenschein war nicht unbedingt der Ort, an dem ich selbst gerne meinen letzten Atemzug getan hätte, aber dort das Zeitliche zu segnen war auf jeden Fall besser, als auf der Intensivstation regelrecht darum kämpfen zu müssen, endlich sterben zu dürfen.
Die Station hatte ihren Namen einesteils daher, dass sie im obersten Stockwerk lag und mit den großzügigen Verglasungen fast wie ein sonnendurchfluteter Wintergarten wirkte, anderenteils aber auch, weil sie von Verwaltungsangestellten und Psychologen des Krankenhauses eingerichtet worden war, die – ganz offensichtlich – noch nie persönliche Erfahrungen mit dem Tod oder dem Sterben gemacht hatten. Nur Menschen ohne jegliches Taktgefühl konnten die Wände und schwarzen Bretter eines Hospizes mit gelben Smiley-Gesichtern bepflastern. In den Gängen sah man Mut machende Poster, auf denen über dem Slogan NUR NICHT DURCHHÄNGEN! süße Kätzchen an Wäscheleinen baumelten. Andere zeigten Krüge mit herrlich kühler Limonade neben bunten Blumensträußen und darunter folgenden Spruch: WENN DIR DAS LEBEN EINE ZITRONE GIBT, MACH LIMONADE DARAUS.
Alte und neue Operation-Morgenluft-Aufkleber in unterschiedlichen Designs schmückten Türen, Fenster, Computerbildschirme und stoffbezogene Raumteiler.
Operation Morgenluft, die auch gerne mit OML abgekürzt wurde, war das krankenhausinterne Programm zur Verbesserung des Betriebsklimas und Erzielung einer optimalen Außenwirkung, das Dr. Jesse James (»Über seinen Namen machen wir uns nie lustig«, sagt Bobby), der Verwaltungschef des Kingdom Hospital, höchstpersönlich entwickelt hat. Wie alle »neuen« Werbestrategien und Ansätze zur Verbesserung der Unternehmenskultur sollte auch OML wichtige und grundlegende Veränderungen in Konzeption, Organisation und
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