Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
Gefängnis nicht lebend verlassen. Und glauben Sie mir: Kindermörder sind für die Häftlinge der allerletzte Dreck. Der Rest seines Lebens wird definitiv die Hölle. Würde er vorher … wie auch immer … ums Leben kommen, dann täte … wer auch immer … ihm einen großen Gefallen.«
Obwohl ich Hiller glaubte, dass eine lebenslange Gefängnisstrafe tatsächlich die gerechtere Strafe wäre, fühlte ich bei dem Gedanken keine Genugtuung. Im Gegenteil. Die Gewissheit, dass mein Vater leben würde, brachte meinen Puls zum Rasen. Ich ballte meine Fäuste und musste mich zwingen, meinen Zorn nicht hinaus zu schreien.
Der Dieselmotor der Fähre brüllte auf und das Boot nahm langsam Fahrt auf. Es fuhr rückwärts aus dem Dock und drehte sich mit dem Bug in Richtung Hart Island. Zu der seitlichen Neigung kam nun auch ein Heben und Senken entlang der Bug-Heck-Achse und ich dachte an Hillers Vergleich mit der Achterbahn. Wieder hatte er Recht. Und er schien diese Achterbahnfahrt zu genießen.
»Ihr Vater war ein angesehener Mann. Natürlich nur, bis er eingewiesen wurde. Im Grunde genommen ist es schade, dass er übergeschnappt ist. Hat einen Preis nach dem anderen erhalten. Er muss einer der besten Neurochirurgen gewesen sein, den diese Welt je gesehen hat.«
Ein sehr angenehmer Mensch, dieser Detektive, stimmt‘s Jack?
»Zumindest war … ist er das größte Arschloch , das diese Welt je gesehen hat«, antwortete ich, obwohl ich nicht abstreiten konnte, dass mich Hillers Worte berührten. Ich versuchte dieses Gefühl zur Seite zu schieben, da es ganz und gar nicht zum Verhältnis zwischen meinem Vater und mir passte. Aber dennoch war es da: das Gefühl eines Sohnes, der auf die Leistungen seines Vaters stolz war.
»Ich kann nicht beurteilen, ob er ein Arschloch war oder nicht«, sagte Hiller. »In unseren Akten liegt nichts gegen ihn vor.« Der Regen war wieder stärker geworden. Heftige Windstöße trieben die Tropfen gegen das Gla s, wo sie sich mit Meerwasse r vermischten und in öligen Schl ieren an der Scheibe abrannen . Am Bug flatterte die amerikanische Flagge im stürmischen Wind. D ie Fäh re hielt verwegen den Kurs und fuhr auf den grellen Lichtpunkt zu, der immer wieder hinter den Wellen verschwand.
Der Wagen polterte über eine u nebene Straße, die durch einen Laubw ald führte. Zwischen den Bäume n blendete ein heller Lichtschein, den ich bereits vom Steg und von der Fähre aus gesehen hatte. Die Bäume warfen lange , scharfe Schatten bis zum steinigen Strand, über den die Brandung fast bis zur Straße reichte .
Wir verließen den Wald. Halogenstrahler waren in einem Viereck von etwa fünfzig Meter n Seitenlänge aufgestellt worden. Sie beleuchteten einen kleinen Bagger und einen Kipper, auf dem sich ein Stromgenerator befand.
Zwei Wach beamte standen um eine Grube und blickten hinab. Einer von ihnen drehte den Kopf in unsere Richtung und kam dann auf uns zu. Auch er trug eine Sonnenbrille und ich fragte mich – zugegeben nicht ohne einer Portion Unverständnis – , wozu. Die Antwort erhielt ich, nachdem ich ausgestiegen war und zur Grube blickte. Die Halogenstrahler. Sie blendeten und ich musste meinen Kopf zum Boden senken, da das grelle Licht sich nach ein paar Sekunden auf der Netzhaut einbrannte und es mindestens eine Minute dauerte, bis dieser blaugrüne Lichtpunkt wieder verschwand.
Der Wach beamte vom Steg hatte seine Sonnebrille auf die Nase geschoben und führte uns zu dem Massengrab. In dem Loch standen sieben Männer mit Schaufeln. Zuerst fragte ich mich, ob es nicht an unmenschliche n Zynismus grenzte, die Männer mit Schaufeln graben zu lassen und als Hohn einen Bagger daneben zu parken. Ich beantwortete mir die Frage jedoch selbst: Natürlich hatte der Bagger den Großteil der Grube ausgehoben. Aber sobald die Sargdeckel erreicht worden waren, konnte der Bagger nicht mehr weitergraben, ohne die filigranen Holzkisten zu zerstören. Ab diesem Zeitpunkt mussten die Männer Sarg für Sarg freischaufeln und sie aus der Grube heben, bis sie schließlich den Sarg mit der Nummer 273 gefunden hatten.
Die Strafgefangenen blickten nach oben. Ihre Jeans waren bis zu den Knien mit lehmigem Dreck beschmiert und auch an den Armen und im Gesicht klebte Erde, die vom Regen aufgeweicht über die Haut rann. Dennoch fand sich in ihrem Blick keine Verbitterung. Die Männer sahen diese Drecksarbeit offensichtlich als ihren Job, auch wenn es nachts war und die Wolken alles auf die Insel
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