Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
schon so so so sehr darauf! Tommy und ich in der Wiese. Das wird super ! Und jetzt muss ich ins Bett. Und Tommy auch. Also dann bis morgen, liebes Tagebuch. Gute Nacht.
»Nein!« Meine Stimme hallte im Krankenzimmer. Ich richtete mich auf und starrte auf einen bestimmten Satz.
Und meine Mom hat gesagt, ich darf morgen mit ihm im Garten spielen.
»Tu das nicht.«
Ein Außenstehender musste den Eindruck haben, dass ich nun v ollends den Verstand verloren ha tte. Ich sprach mit dem Buch. Sprach mit Buchstaben, mit Worten und Sätzen, als hätte ich die Möglichkeit, sie zu verändern. Dabei war alles längst geschehen. Patricia würde am nächsten Tag mit Tommy im Garten spielen. Nichts konnte das verhindern. Das – und die Katastrophe, die sich ereignen würde.
Immer noch starrte ich auf die Buchstaben. Starrte durch sie hindurch, bis sie zu einem Meer aus Strichen und Punkten verschwammen. Ich wagte nicht umzublättern. Nein. Ich konnte es nicht. Ich fürchtete, mit dem Umblättern ein Tor zu öffnen, durch das Dunkelheit in Patricias Leben fließen würde. Finsternis, die sie einhüllen und ihr jedes Licht rauben würde. Ich schloss die Augen wie ein Junge, der sich einredete, die Monster in seinem Zimmer würden dann verschwinden. In den Augenwinkeln spürte ich Tränen. Zu wenig, als dass sie über die Wangen hätten rinnen können. Ich wusste, welche Worte auf mich warteten. Ich sah sie vor mir. Klar und deutlich. War es eine Erinnerung? Oder ein weiteres Bild von Any? Keine Ahnung. Als ich die Augen wieder öffnete und es schließlich doch schaffte, die Seite umzublättern , trafen sie mich dennoch mit voller Wucht.
Tommy ist tot.
Die Buchstaben waren mit roter Tinte quer über die Seite eingraviert. Das o von tot zerrann in feinen Äderchen. W ie winzige Flüsse aus Blut mündeten sie in einem roten, verwischten Tintenfleck.
Der erste Dominostein war umgefallen.
Natürlich kam es vor, dass Kinder ihre geliebten Haustiere verloren u nd selbstverständlich würden sie darüber hinwegkommen. Aber ich fühlte, dass es bei Patricia anders war. Etwas war mit ihr geschehen, als wäre ein wichtiger Teil von ihr mit Tommy gestorben. War es anfangs nur ein Gefühl, so erhielt ich mit dem nächsten Eintrag die Bestätigung.
Ich bin schuld. Auch wenn meine Mom sagt, dass es nicht so ist. Ich weiß es. Und ich weiß, dass meine Mom es weiß. Die ganze Welt weiß es. Hätte ich laufen können, dann wäre Tommy noch am Leben. Er würde jetzt bei mir liegen und mich anschauen. Hätte ich nicht diesen Ball geworfen, würde Tommy noch leben. Er würde mit dem Schwanz wedeln und quietschen, weil ich ihm den Bauch streichle. Aber ich kann nicht laufen und ich habe diesen Ball geworfen. Also liegt Tommy nicht bei mir sondern irgendwo in einem Müllsack, in de n sie seinen zerquetschten Körper getan haben.
Der Autofahrer ist nicht stehengeblieben. Er hat gar ni cht bemerkt, dass er Tommy überfahren hat. Tommy hat nur kurz geheult. Ich werde das nie vergessen. Und das Geräusch, wie das Auto über ihn gefahren ist. Tommy ist tot. Und ich bin schuld.
Mom hat heute gesagt, dass ich morgen nach der Schule in ein Heim muss. Weil Dad nicht da ist und sie arbeiten muss. Aber ich glaube ihr das nicht. Sie will, dass ich in das Heim gehe, weil ich Tomm y umgebracht habe. Sie glaubt sicher , dass ich noch mehr böse Sachen mache. Und ich glaube das auch .
»Dich trifft keine Schuld, meine Kleine«, sagte ich, wusste aber, dass selbst, wenn sie mich hätte hören können, meine Worte kein Trost für sie gewesen wären. Sie würden an ihrem Panzer aus Trauer und Wut abprallen.
Ich konnte ihre Trauer spüren, die Wut verstehen. Doch wie auch mich keine Macht der Welt trösten konnte, als ich Tommy verloren hatte, würde auch Patricia niemand aus ihrer Trauer reißen können . Sie musste selbst herausfinden. Aber ich wusste, dass si e es nicht schaffen würde.
Kälte kroch unter der Bettdecke auf meinen Oberkörper. Wie die schleimige Spur einer Armada von Nacktschnecken hüllte zähflüssiges Eis meinen Körper mehr und mehr ein. Der Himmel leuchtete in fahlem Rot und ich fühlte einen Hauch von Erleichterung, als ich die Zimmertür ins Schloss schnappen hörte. Ich erwartete Cindy oder einen Arzt. Doch anstatt Schritte vernahm ich ein rollendes Geräusch. Dann stand die ser Rollstuhl vor meinem Bett. Er r ollte nicht an die augenblickliche Position, sondern stand da, als wäre er schon immer in
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