Das Tagebuch der Patricia White (German Edition)
über meine Finger.
Tommy. Ich setzte mich auf, hörte, wie sich die Federn mit leisem Ächzen spannten. Tommys Fell fühlte sich flauschig an. Weich und warm. Ich drückte ihn an mich und fühlte mich glücklich. Ein Gefühl, das ich selten verspürt hatte. Erst einige Sekunden später wurde mir klar, dass Tommy nicht hier sein konnte. Es war unmöglich.
Wie kann das sein, Any? Ich dachte, Tommy ist … tot.
Es ist möglich, weil du träumst. Und es ist nicht dein Bett, nicht dein Zimmer, nicht dein Tommy.
Ein Geräusch lenkte meinen Blick in Richtung Tür . E in Summen, als stünde man unter einer Hochspannungsleitung. Es wurde lauter, durchdringender. Durch den Spalt unter der Tür schimmerte türkises Licht. Es wurde heller. Dichter. Wie türkise Lava floss es unter der Tür in den Raum.
Any?
Es ist nur ein Traum, Jacky. Hab keine Angst.
Aber ich hatte Angst. Furchtbare Angst. Die Lava floss auf mich zu und tauchte den Raum in einen grünblauen Schein. Tommy schien die Gefahr nicht zu spüren. Mit heraushängender Zunge blickte er mich treuherzig an. Auch als die Lava seine Pfoten umspülte. Ich zog ihn zu mir, setzte ihn auf die Liege. Bald hatte die zähe Flüssigkeit das Zimmer vollends geflutet und bildete blubbernde Blasen. Sie wurden dichter, als würde der Boden die Flüssigkeit zum Kochen bringen. Die Blasen formten einen Kreis. In dem Kreis stieg die Lava in die Höhe, wie Knetmasse, die man durch einen R eifen quetschte. Kurz bevor d er Lavawulst die Zimmerdecke erreicht hatte, bildete das Ende einen Kopf. Den Kopf einer Schlange. Sie riss das Maul auf, ließ drei Reihen rasiermesserscharfe Zähne erkennen. Glühende Augen starrten in meine Richtung. Nein. Sie starrten auf Tommy, der mich immer noch anblickte und hechelte.
Es ist nicht dein Traum, Jacky. Das bist nicht du. Das ist nicht dein Tommy.
Noch bevor ich antworten konnte, raste der Schlangenkopf auf mich und Tommy zu. Die Zähne bohrten sich in Tommys Fleisch. Ich schrie, als eine Armee von Skalpellen durch seinen Körper marschierte und der Hinterleib im Rachen der Schlange verschwand.
Tommy blickte mich immer noch an.
Er hechelte.
Ich brüllte, wie ich noch nie in meinem Leben gebrüllt hatte.
10
Die ersten Sekunden starrte ich an die Zimmerdecke . Ich erwartete, dass jeden Moment diese Schlange auftauchen würde. Erst dann realisierte ich, dass ich geträumt hatte, dass ich nicht mehr dieser Junge war, sondern in einem Krankenhaus lag und immer noch Patricias Tagebuch in der Hand hielt.
Ich erinnerte mich an jede s Detail des Traumes, zitterte nach wie vor und verspürte den Drang, mich unter der Bettdecke zu verstecken. Wie damals, in dieser Abstellkammer. Ich wollte mich verkriechen und wünschte mir Any an meine Seite. Mir wurde bewusst, wie sehr ich sie brauchte. Wie sehr ich sie immer schon gebraucht hatte. Ohne Any fühlte ich mich unvollkommen und hilflos. Es gab so viele Fragen und sie war die Einzige, die mir Antworten liefern konnte.
Any?
Ich wartete. Horchte tief in mich hinein. Wagte aber nicht, die Augen zu schließen, aus Angst, wieder einzuschlafen. Nichts passierte. Keine angenehme Stimme war zu vernehmen, kein Kribbeln, keine wie auch immer geartete Wahrnehmung, die auf ihre Anwesenheit hätte schließen lassen.
Any war nicht da.
Ihre Aussage schien paradox. Sie meinte, es wäre nicht mein Traum gewesen. Das wäre nicht ich und nicht mein Tommy. Wessen Tommy war es dann? Patricias? Hatte ich den letzten Tagebucheintrag in einer Traumsequenz abgebildet und war sie nichts anderes als eine Er innerung an das davor Gelesene?
Eine plausible Erklärung. Wenn sie denn zuträfe. Irgendwo in meinem Inneren wusste ich aber, dass ich falsch lag. Dieser Traum hatte sehr wohl eine Erinnerung verarbeitet – nur nicht an den Tagebucheintrag, sondern an etwas anderes. Etwas, das mit Tommy zu tun hatte. Etwas unglaublich Schreckliches. Aber was?
Ich blickte auf das Tagebuch und fühlte , dass ich die Antwort i n der Hand hielt und nur weiter lesen musste, um sie zu erhalten .
Liebes Tagebuch,
heute habe ich geweint. Ich war so traurig, weil Lisa mich geärgert hat. Lisa war bis heute meine beste Freundin. Ich habe ihr erzählt, dass ich jetzt einen Hund habe und sie hat gesagt, dass das doch gar nichts bringt, weil ich nicht mit ihm herumlaufen kann. Dann hat sie noch gesagt, sie nimmt mir Tommy weg , weil der Hund eine Freundin haben will, die mit ihm im Garten herumhüpft und spazieren geht. Jetzt mag ich
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