Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
mich herum. Gibt meinem Hirn nur wieder die Chance, seine ganz eigene Apokalypse auszuspucken.
Die Schlange an der Essensausgabe ist ewig lang und die Leute sind ungeduldig, nervös. Immer wieder bekomme ich einen Stoß in den Rücken. Kein Wunder, dass alle gereizt sind. Vielmehr ein Wunder, dass sie angesichts der Ereignisse und schlechten Nachrichten sich noch an das Gesetz der Schlange halten und überhaupt an Essen denken.
»Schnell, schnell.« Die Chinesin hinter der Essensausgabe starrt mich mürrisch durch ihre dicke Brille an, die noch aus prähistorischer Zeit stammen muss. Ich kann mich nicht an ihren Namen erinnern.
»Okay, ich möchte …«
»Nur noch Fisch.«
Ich starre hoch zur Tafel. Verdammt, alle Gerichte außer Lachs sind durchgestrichen, und schon wieder Pancakes … nein, ich kann sie nicht mehr sehen.
»Okay, dann …«
Die Lippen aufeinandergepresst, hält sie die Schöpfkelle hoch und will die Soße in der Farbe eines fauligen Eis über den blässlichen Fisch kippen.
»Nein, danke, keine Soße«, sage ich gerade, als sie den Lachs schon in der ekelhaften Soße ertränkt.
»Viel essen. Vitamine«, erklärt sie mir.
»Würde ich ja gerne«, erwidere ich. »Aber jetzt ist der arme Fisch tot.«
Sie versteht den Scherz nicht, sondern nickt. »Ja, tot. Wenn du nicht isst.«
Ich will ihr schon ein Lächeln aus der Kategorie charming guy schenken, als sie langsam vor meinen Augen verschwimmt. Obwohl, verschwimmt ist nicht das richtige Wort. Sie verblasst. Etwas entzieht ihr ganz langsam die Farbe, sie wird grau wie meine ganze Umgebung, während zwei Worte in meinen Ohren nachhallen: Ja. Tot.
Die Männer in Orange fallen mir ein, die schweren Arbeitsgeräte im Regen. Was haben die dort draußen eigentlich vor, wenn sie das College sowieso schließen? Wozu die Mühe? Bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass sie eine Flutung des Sees aufgrund dieses unglaublichen Regens verhindern wollen – aber wäre das nicht egal, wenn hier keine Menschenseele mehr ist?
Moment, was, wenn ich falsch denke? Was, wenn … wenn sie uns alle anlügen und sie einfach nur das Tal verbarrikadieren? Weil es gefährlich ist, böse, unkontrollierbar?
Was, wenn … sich all das hier nur in meinem Kopf abspielt und gar nicht real ist und ich gleich in der Dusche aufwache? Angst schießt in mir hoch. Sie fließt durch meinen Körper und nimmt mir den Atem.
Ich sitze in der Falle. Ich kann nicht zurück in die Vergangenheit, nicht in der Gegenwart bleiben. Der einzige Ausweg ist die Zukunft, die in den Sternen steht. Das wäre es. Flucht auf einen anderen Planeten. Zu blöd, dass die NASA ihre Weltraumfahrten abgebrochen hat.
Von hinten legt sich eine Hand auf meine Schulter. Ich zucke zusammen und irgendwie bleibt die Luft in meinen Lungen hängen. Ich habe das Gefühl, mein Brustkorb bläht sich auf zu einem riesigen Ballon. Gleich platzt er.
»Hi, Benjamin«, reißt mich eine Stimme zurück, als zöge mich eine Hand kurz vor dem Ertrinken aus dem Wasser. Vor mir steht Jeremiah. »Was wirst du machen?«
Ich starre ihn völlig irritiert an.
»Wenn du hier weggehst.«
Ich schüttele automatisch den Kopf. Ich werde nicht von hier fortgehen, will ich schon sagen, aber im letzten Moment überlege ich es mir anders.
»Ich war hier sowieso schon auf dem Absprung«, erwidere ich lässig. »Ich kehre erst mal nach Hause zurück und dann bewerbe ich mich an irgendeinem anderen College. Mache was mit Filmen oder so.«
Jeremiah nickt. »Guter Plan.«
»Und du?«
»Ich weiß nicht. Ich habe ein Stipendium für das Grace. Aber ob ich das woanders kriege …«
»Ein Stipendium?«, frage ich und offenbar liegt etwas in meiner Stimme, das ihn alarmiert. »Hast du dich dafür beworben?«
»Klar«, antwortet er irritiert. »Sonst hätte ich es ja wohl kaum bekommen.«
Eben.
Wir, Julia, Robert, Rose und David, Chris und Katie, wir alle haben ein Stipendium, obwohl wir uns nicht beworben haben. Damit hat alles seinen Anfang genommen. Und hey, kommt mir plötzlich der Gedanke, sind wir deswegen auch die Einzigen hier, die überhaupt keinen Plan B brauchen? Weil es für uns bereits einen Plan A gibt?
Ich vergesse Jeremiah und dränge mich an den Tischen vorbei zu den anderen. Ich ignoriere alles, was ich im Vorbeigehen höre. Alle Satzfetzen, die sich um das College, die Zukunft, den Flugzeugabsturz und den Sandsturm in Guatemala drehen. An unserem Tisch schiebe ich mich auf einen freien Stuhl. Vermutlich hätten alle
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