Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
einen festen Sitzplatz, wenn ich nicht immer das System zum Kippen brächte. Am meisten macht es Spaß, Debbies Stuhl am unteren Kopfende zu besetzen. Ähnlich wie ein Hund sein Revier markiert, indem er an alle Bäume pinkelt, hat Debbie diesen Platz okkupiert, indem sie dort ein von ihrer verstorbenen Großmutter besticktes Tischset deponiert hat sowie eine Kerze. Da von ihr nichts zu sehen ist, lasse ich mich auf ihren Platz fallen, ziehe ein Feuerzeug aus der Hosentasche und zünde die Kerze an.
»Und sehet, die letzte Kerze brennt …«, deklamiere ich, ernte jedoch nur Missachtung.
»Wir müssen uns um unsere Flüge kümmern«, erklärt Chris, »bevor die Plätze alle weg sind.«
»Wo wir sterben, spielt doch keine Rolle«, erwidert Katie. »Ist doch egal, wo es uns erwischt. Im Flugzeug, in L. A., hier im Tal …«
So wie sie aussieht, meint sie es ernst. Dass Katie, ausgerechnet die skeptische Katie, die alles und jeden in den Zweifel zieht, einmal an die Apokalypse glauben würde – das erschreckt mich vielleicht mehr als alles andere.
»Wir sind erst tot, wenn wir sterben«, sagt Robert.
In diesem Moment taucht Debbie auf. Auf ihrem Tablett liegt die inzwischen völlig zerfledderte Zeitschrift und ein Teller nur mit Reis.
»Meinst du nicht, du solltest dich satt essen für das große Finale?«, spotte ich.
»Du sitzt auf meinem Stuhl.«
»Warum? Steht da irgendwo dein Name drauf?« Ich erhebe mich lässig, hebe den Stuhl hoch und werfe einen Blick auf die Unterseite. »Und mal ehrlich, wozu brauchst du einen Stuhl, wenn die Welt sowieso untergeht?«
Seltsamerweise reagiert sie überhaupt nicht darauf. Stattdessen nimmt sie Davids Stuhl und lässt sich darauf fallen.
Peng!
Wie wenn in China ein Sack Reis platzt, denke ich und mir fällt der Name der Bedienung wieder ein.
Cheng.
Cheng Shu.
Dass mein Gedächtnis wieder funktioniert, verschafft mir ein Gefühl der Erleichterung. Ich steche mit der Gabel in den Fisch, der augenblicklich zerfällt.
»Okay, Leute.« Chris hebt die Hand. »Offenbar bin ich der Einzige hier, der auf dem Boden der Tatsachen bleibt. Das College wird geschlossen, nicht mehr, nicht weniger. Umso besser, dann können wir endlich abhauen und den ganzen Vergangenheitsscheiß hinter uns lassen. Einfach neu anfangen.« Er legt den Arm um Julia. »Und das gilt auch für dich und Robert. Ihr habt schon lange nichts mehr von den Typen gehört. Wahrscheinlich haben sie schon lange aufgegeben.«
»Die geben nicht auf«, widerspricht Julia verzweifelt. »Sie wollen Robert finden. Er kennt ihre Gesichter. Und wenn es anders wäre, hätten sich unsere Kontaktpersonen …« Sie bricht ab und sieht sich um. Manchmal vergessen wir alle, dass Julia und Robert von den Mördern ihrer Eltern gejagt werden. Dass sie im Zeugenschutzprogramm sind. Dass jedes falsche Wort sie in Gefahr bringen kann.
»Dann geben wir eben auch nicht auf«, beharrt Chris.
Julia widerspricht Chris nicht, aber es ist offensichtlich – kein Wort, von dem, was er sagt, kann sie trösten.
»Du glaubst es immer noch nicht, stimmt’s?«, schreit Debbie plötzlich los und deutet mit ihrer Gabel auf Chris. »Du glaubst nicht, was in dem Artikel steht. Dass es keine Zukunft mehr gibt. Aber es war Tim, der das geschrieben hat. Der Tim, dem ihr die ganze Zeit vertraut habt. Er war Journalist. Deshalb war er hier oben. Er war der Wahrheit auf der Spur. Nur darum ging es ihm, von Anfang an!«
»Warum sollten wir ihm glauben, Debbie?« Chris schüttelt den Kopf. »Du hast es selbst gesagt, er hat uns nach Strich und Faden belogen. Er hat sich sogar zuerst als Paul Forster ausgegeben.«
Ich werde nervös. Mir fällt wieder ein, dass ich es nie geschafft habe, Tim Yellad mit der Kamera aufzunehmen. Andererseits, vielleicht steckte auch irgendein Trick dahinter. Die Sache mit Ronnie jedenfalls – die hätte jeder gute Journalist recherchieren können, so viel ist mir inzwischen klar.
»Vielleicht wusste er ja damals schon, dass Paul Forster dort oben in der Eishöhle liegt«, fährt Chris fort.
»Ich will nicht daran denken«, flüstert Rose. »Warum haben sie die Stelle eigentlich nie gefunden?«
Wir alle können uns das nicht erklären. Nach Katies Bericht über Paul Forsters Leiche in der Gletscherspalte hatte man eine Suchmannschaft losgeschickt, um den Toten zu bergen. Vergeblich. Obwohl Katie mit dort oben war, konnten sie die Gletscherspalte nicht mehr finden, in der Paul lag. Vielleicht hatte eine Lawine sie
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