Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
den Kopf hebe und mein Blick am Schreibtisch kleben bleibt, zur Tür wandert, hinter der sich der Mathematikordner befindet und dahinter der letzte Rest Dope. Er stammt noch aus der Anfangszeit hier oben und hat vermutlich nur noch eine Wirkung, als würde ich tatsächlich Scheiße rauchen. Dennoch möchte ich nichts lieber, als den Shit durch meine Lungen jagen, bis mein Kopf explodiert.
Eine eiskalte Hand presst mein Herz zusammen. Altbekannte Ängste schießen in mir hoch. Wieder blicke ich auf das Formular, das mit diversen Stempeln und einer unleserlichen Unterschrift versehen ist. Ich meine, will Gott mich verarschen? Ich kriege das Ganze einfach nicht in meinen Schädel. Will nur weg hier. Raus in den Regen, damit ich wieder klar denken kann.
Ich werfe die Papiere auf mein Bett, stürme aus dem Zimmer, höre nicht, was David mir hinterherruft, renne auf der Treppe gegen irgendjemanden, der mich anschreit: »Bist du verrückt geworden?«
Nein, will ich brüllen, ich nicht, aber das alles hier. Doch die Wahrheit schnürt mir die Kehle zu. Abartig. Das ist abartig, dass die Wahrheit eigentlich eine Lüge bedeutet.
Ich rase die Stufen runter, zweiter Stock, erster Stock, dann bin ich unten. Ich nehme den Nebeneingang, reiße am Türgriff. Ich trage nur ein T-Shirt. Innerhalb einer Sekunde bin ich völlig durchnässt. Das Wasser läuft mir aus den Haaren und tropft mir in Ohren, Mund, Nase. Ich stehe in Socken in einer riesigen Pfütze und das Wasser reicht mir bis an die Knöchel. Doch ich verharre in dieser Position. So laut wie die Wellen des Sees, die gegen die errichteten Notwände schlagen, sind auch die Stimmen in meinem Kopf. Denn jetzt verstehe ich es. Ich verstehe, worüber Mom und Dad damals im Krankenhaus geredet haben, nicht lange nach der Sache mit Ronnie. Ich hatte es einfach vergessen. Oder verdrängt. Weil nach diesem Tag nichts mehr war wie zuvor.
Wir hatten die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht und ich war nur kurz hinausgegangen, um mir und Dad einen Kaffee oder etwas mit der Farbe von Kaffee aus dem Automaten zu holen.
Das Gesöff war so heiß, dass ich es draußen kurz abstellte, bevor ich wieder in Moms Zimmer ging.
»Warum sollten wir das tun?«, hatte ich in diesem Moment Dads wütende Stimme gehört. Dad wurde eigentlich nie wütend. Er ist der sanfteste Mann, den ich kenne.
»Ich möchte es ihm sagen, bevor es zu spät ist.« Mom musste nach jedem Wort eine Pause machen, weil sie kaum noch Luft bekam. Das ging mir wirklich durch und durch. Ich spürte, wie ich bei jedem Luftholen selbst laut atmete.
»Wir haben nie gelogen.«
»Er hat ein Recht darauf. Er ist jetzt alt genug.«
Ich trat näher an die Tür, legte mein Ohr daran. Und doch kapierte ich überhaupt nicht, worüber meine Eltern sprachen.
»Warum?« Mein Vater klang jetzt nicht mehr wütend, sondern nur noch verzweifelt. »Warum änderst du plötzlich deine Meinung? Wir wollten es immer für uns behalten.«
Ihre Stimme war so schwach, dass es eine Weile dauerte, bis ich verstand, was sie antwortete: »Weil es unmenschlich ist.«
Danach folgte eine lange Pause, in der ich nur dachte: Tu einfach, was sie sagt, Dad. Mach es einfach. Vielleicht ist es das Letzte, was sie sich überhaupt noch wünschen kann.
Dass Mom glücklich war, das war alles, was zählte, und ich konnte einfach nicht verstehen, warum Dad noch immer widersprach.
»Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt«, hörte ich ihn wieder durch die Tür.
»Gerade jetzt.«
Danach herrschte Stille. Totenstille.
Ich stand einfach da, die beiden Kaffeebecher in der Hand, von denen ich einen so schief hielt, dass mir die bräunliche Brühe über das Hemd und die Hose lief. Ich klammerte mich an die Worte, die Mom immer sagte, um Dad und mich zu trösten: »Wird schon gut gehen.«
Und als Ärzte und Krankenschwestern mit irgendeinem Gerät an mir vorbeijagten, machte ich ihnen Platz, setzte mich auf einen Stuhl an der Wand und wartete.
Bis Dad kam, mir die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Es ist vorbei, Benjamin.«
Das also war die Nacht, in der Mom starb. Der Tag, an dem das Gespenst mit dem Namen Krebs ihren Körper von innen aufgefressen hatte.
Mom hatte gelogen. Es war nicht gut gegangen. Nach vier Chemotherapien war Schluss.
Obwohl ich völlig durchnässt bin, spüre ich ihn, den einen Schweißtropfen, der an meiner Wirbelsäule herunterrinnt.
Und es ist nicht die unnatürliche Wärme, die mich zum Schwitzen bringt, sondern die Angst. Die
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