Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
sich fürchtet … oder zum Angriff bereit ist.
Und dann sehe ich tatsächlich etwas, das ich vorher gar nicht wahrgenommen habe. Nicht alle Nischen sind leer. In einer scheint die Statue einer Frau zu stehen, deren Schönheit und Perfektion mich an griechische Skulpturen erinnert und an noch etwas … nur fällt es mir nicht ein, weil …
Ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
Ich bin nicht allein.
Vor der Nische steht jemand und starrt auf die Frau aus Stein.
Ein Mensch aus Fleisch und Blut. Mann, mein Puls rast und mein Herz schlägt so laut, dass ich wirklich Panik habe, die Felswände könnten das Hämmern als Echo wiedergeben. Doch stattdessen hallen andere Worte wider, nein, es sind keine Worte, viel eher klingt es so, als ob jemand weint.
Wir sehen das Ende. Hält die Zeit für uns still.
Woher habe ich diesen Satz?
Die Szene ist mir vertraut. Ich sehe mich selbst, wie ich an einem Tisch stehe und in Aktenordnern blättere. Namen ziehen an mir vorbei. Frank Carter, Paul Forster und …
Die Erinnerung trifft mich wie ein Faustschlag. Mir wird übel.
Ich war schon einmal hier. Nur damals war ich allein … allein bis auf den Schatten, der mich hierhergeführt hatte. Ich stand in diesem Raum und habe die Aufzeichnungen gelesen. Ich weiß auch, wie der Text weitergeht.
Und es wird uns finden. Wenn es uns will.
Unwillkürlich bewege ich mich. Geröll und Sand knirschen unter meinen Füßen. Und die Gestalt schreckt hoch und dreht sich zu mir um.
Es ist ein Mann, älter als ich. Vielleicht so alt wie mein Dad. Und wie dieser korrekt gekleidet. Mein Dad trägt nichts anderes als einen Anzug, wenn er das Haus verlässt.
»Nein. Geh weg. Es ist zu spät. Du kannst nichts mehr ändern.«
Ich hebe die Hände, wie man es eben tut, um zu zeigen, dass man in friedlicher Absicht kommt.
Der Mann weicht zurück, bis er die Mitte des Raums erreicht hat, wo ich Stufen erkenne. Sie führen wie in einem Amphitheater in die Tiefe.
Ich folge ihm. Gehe zehn Schritte, zwanzig, dreißig. Der Raum scheint sich auszudehnen, immer größer zu werden. Der Mann vor mir steht noch immer vor den Stufen, eingetaucht in das bläulich schimmernde Licht der Glaskuppel.
Ich verhalte mich möglichst ruhig. So ruhig, wie es mir bei all der Aufregung gelingt. Denn klar geht mir der Arsch auf Grundeis.
»Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?« Irgendwie scheint mir das die beste Methode, ein Gespräch zu beginnen. Als wären wir zwei Fremde, die sich zufällig auf der Straße treffen. Und mein Gegenüber antwortet.
»Ich musste zurückkehren. Es ist der einzige Weg, meinen Frieden zu finden.«
Er sieht an mir vorbei, starrt auf die Statue in der Nische. »Weil sie hier ist.«
Sein Haar ist eisgrau, eine merkwürdige Farbe, nein, eigentlich eher das Fehlen einer Farbe.
»Sie sind einer von ihnen, oder?«, frage ich. »Einer der Studenten, die am Solomon College studiert haben und auf dem Ghost verschwunden sind.«
Jetzt wendet sich sein Blick mir zu. Auch seine Augen sind grau, eisgrau wie die Haare. »Wir haben versucht zu fliehen, jeder von uns hat das getan. Was für ein Hohn! Als ob eine Flucht jemals eine Option gewesen wäre.«
Ich versuche, mich auf die Fakten zu konzentrieren. Merkwürdigerweise habe ich einen klaren Kopf, meine Angst ist völlig verschwunden. Ich habe die Chance, hier und jetzt alles zu erfahren, was wir wissen müssen. Das spüre ich. Ich darf nur keinen Fehler machen.
»Was ist dort oben auf dem Ghost passiert?«, frage ich.
Er sieht mich nicht an, aber er antwortet trotzdem. »Als ich am Morgen zurückkam, waren sie alle weg. Mark, Frank, Martha, Eliza, Kathleen – sie alle waren verschwunden. Und sie hatten Grace dort liegen lassen. Die Vorräte haben sie mitgenommen, aber Grace, die hatten sie einfach vergessen. Verstehst du?« Sein Gesicht ist plötzlich tränenüberströmt. »Sie lag da und alles an ihr war aus Stein. Ich konnte sie nicht bewegen. Ich wachte drei Tage bei ihr, und als sie kamen, war ich bereit zu gehen.«
»Wer kam?«
»Bishop. Brandon. Nanuk Cree.«
Der Rettungstrupp, also. Der nur noch die versteinerte Leiche von Grace gefunden hatte, wenn man Jennifer Hill glauben durfte.
Ein zögerndes Lächeln gleitet über sein Gesicht. »Ich ging. Sie sollten mich nicht finden. Aber ich schwor mir damals, zu ihr zurückzukehren.«
Plötzlich begreife ich: »Sie sind Milton.«
Er nickt.
Milton Jones, der Grace mehr geliebt hat als sein Leben. Sie starb dort oben
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