Das Tal Bd. 7 - Die Jagd
verwandelt, der schließlich so steil bergauf führt, dass ich zu keuchen anfange. Ich spüre das Gewicht des Rucksacks. Und ich muss bei jedem Schritt aufpassen, dass ich auf dem glatten Steinuntergrund nicht ins Rutschen gerate. Als ich es wage, den Blick vom Boden zu heben, bemerke ich, dass Robert sich alle paar Sekunden nach mir umdreht.
Wie lange wir für den Anstieg gebraucht haben, weiß ich nicht; gemessen an der Menge von Angstschweiß, die in dieser Zeit meinen Rücken hinuntergelaufen ist, kommt es mir wie Stunden vor.
Irgendwann erreichen wir ein Plateau, das mir vage bekannt vorkommt. Ich schaue hinüber zum See und bemerke, dass wir uns genau oberhalb der Brücke befinden, wo Tim Yellad und die anderen zu Tode gekommen sind.
»Zum Teufel«, rufe ich, »das ist eine verfluchte Scheißidee, Robert. Du jagst einem Phantom hinterher. Und Fuck, es geht mir am Arsch vorbei, dass Kathleen Bellamy eine meiner Vorfahren ist. Ihr Name kann auf dem Grabstein meinetwegen verrotten. Ist sowieso bald alles vorbei.«
Entweder, sie hören mich nicht, weil jetzt der Wind aufheult und meine Jacke aufbläht wie ein Segel, oder sie ignorieren mich.
Wobei die erste Möglichkeit wahrscheinlicher ist, denn die Lautstärke, mit der der Wind plötzlich über das Plateau fegt, gleicht dem Tosen eines Blizzards.
»Ich weiß nichts!«, schreie ich. »Ich würde es euch sonst sagen. Ich weiß es nicht mehr, weil es … oh, Scheiße … ihr könnt es euch nicht vorstellen, nicht einmal in euren schlimmsten Träumen, und deshalb, okay … Ich erinnere mich. Ja, ich erinnere mich, aber nur daran, dass es entsetzlich war.«
Jetzt bleiben sie tatsächlich stehen und ich bemerke erst jetzt, dass der Wald nicht mehr weit entfernt ist. Auch als ich bei ihnen ankomme, gehen sie nicht weiter.
»Hört zu, Leute«, sage ich keuchend und versuche, meine Atmung in den Griff zu bekommen. »Ja, ich habe in letzter Zeit einige schlimme Träume gehabt und hatte dabei ein seltsames Gefühl von Déjà-vu. Als wäre ich an dem Ort schon einmal gewesen oder als hätte ich das alles schon einmal erlebt. Albträume halt. Kennt doch jeder von uns.«
»Richtig«, erklärt Julia unverblümt. »Und Ursachen für Albträume sind unverarbeitete Geschehnisse, traumatische Erlebnisse. Genau darum geht es ja.«
»Wir sind bei dir«, versucht mich David zu beruhigen. »Wir lassen dich nicht allein.«
Warmduscher, denke ich gehässig. Er ist bei mir? Dass ich nicht lache.
Robert zieht seine Kapuze zurecht. »Vielleicht passiert überhaupt nichts«, sagt er und zuckt mit den Schultern. »Aber wenn meine Theorie stimmt, dann werden diese Erinnerungen von dir, diese Zeitreisen, wie du sie nennst, von einem Trigger ausgelöst. Und den müssen wir einfach nur finden.«
Ich weiß, was er meint. Es braucht nur einen Auslöser. Ein Geruch, eine Geste, ein Geräusch, ein Ort und … schwupp … die Erinnerung kehrt zurück. So wie Robert es beschreibt, klingt es total easy. Klick … und der Flashback ist da. Herzlich willkommen in der Vergangenheit.
»Reden können wir später«, erklärt Katie energisch. »Sehen wir zu, dass wir in den Wald kommen, dann ist der Wind nicht mehr so stark.«
Kaum hat sie den Satz beendet, bricht der Wind plötzlich abrupt ab. Gerade noch hat er uns fast umgerissen und nun … Stille.
Und dann setzt ein anderes Geräusch ein. Es nähert sich von links und wird innerhalb von Sekunden intensiver. Eine Art von Summen, als ob sich riesige Schwärme von Heuschrecken nähern. Es verstärkt sich zu einem Pfeifen, das trotz der Kapuze auf meinem Kopf zu einem unerträglichen Ton anschwillt.
Unwillkürlich zähle ich die Sekunden, bis Katie keucht: »Seht ihr das?« Sie deutet mit dem Zeigefinger nach vorne.
Ich starre angestrengt in die angegebene Richtung, doch ich kann nichts erkennen. Nur die hohen, langen Baumstämme vor uns, die den Berghang bedecken und die mit ihren verschwommenen Silhouetten und den vom Regen scheinbar geschliffenen Stämmen plötzlich wie metallisch glänzende Stäbe aussehen.
Die Druckwelle trifft mich unerwartet und schiebt mich nach hinten. Ich stolpere und werde zu Boden gezogen. Mühsam rapple ich mich auf und starre angestrengt geradeaus.
Und sehe sie auf uns zuschweben.
Eine farbige Wolke.
Nein – eher einen rötlichen Nebelschwaden, der einen gespenstischen Kontrast zu dem immer noch dunklen und wolkenverhangenen Himmel bildet. Als ob ein Streifen Abendrot am Horizont sich vom Himmel gelöst
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