Das Tal der Angst
Jedes Papier, das ihn belasten konnte, wurde vernichtet, ehe er das Haus verließ. Danach stieß er einen langen zufriedenen Seufzer aus, als glaubte er sich nun in Sicherheit; gleichwohl muß ihn die Gefahr noch immer irgendwie bedrückt haben, denn auf seinem Weg zur Loge machte er halt beim alten Shafter. Das Haus war ihm zwar verboten, aber als er ans Fenster klopfte, kam Ettie heraus zu ihm. Die tanzende irische Ausgelassenheit war aus den Augen ihres Geliebten verschwunden. Sie las die Gefahr in seinem ernsten Gesicht.
»Es ist etwas geschehen!« rief sie. »Oh, Jack, du bist in Gefahr!«
»Nicht doch, so schlimm ist es nicht, mein Liebchen. Trotzdem wäre es vielleicht klug, daß wir aufbrechen, bevor es schlimmer wird.«
»Aufbrechen!«
»Ich habe dir einmal versprochen, daß ich eines Tages gehen werde. Ich glaube, es ist bald soweit. Ich habe heute abend eine Nachricht erhalten – eine schlechte Nachricht –, und ich sehe Scherereien kommen.«
»Die Polizei?«
»Nun ja, ein Pinkerton. Aber du wirst bestimmt nicht wissen, was das ist, acushla, und was es für meinesgleichen bedeuten kann. Ich stecke zu tief in dieser Geschichte und muß möglicherweise bald verschwinden. Du hast gesagt, daß du mich begleiten würdest, wenn ich gehe.«
»Oh, Jack, es wäre deine Rettung.«
»Ich bin in mancher Beziehung ein ehrlicher Mensch, Ettie. Nicht um alles in der Welt könnte ich deinem hübschen Köpfchen ein Haar krümmen, und niemals könnte ich dich auch nur einen Zentimeter herabziehen von dem goldenen Thron über den Wolken, wo ich dich immerzu sehe. Willst du mir vertrauen?«
Wortlos legte sie ihre Hand in seine.
»Gut, dann hör zu, was ich sage, und tu alles so, wie ich es dir auftrage, denn das ist unser einziger Ausweg. In diesem Tal wird bald etwas geschehen. Ich spüre es in jeder Faser. Wahrscheinlich müssen dann viele von uns sehen, wie sie zurechtkommen. Ich bin jedenfalls einer davon. Wenn ich gehe, dann mußt du unbedingt mit mir kommen – bei Tag oder Nacht!«
»Ich komme dir nach, Jack.«
»Nein, nein; du wirst
mit
mir kommen. Wenn mir dieses Tal verschlossen ist und ich nie mehr zurückkehren kann, wie könnte ich dich dann hierlassen, wo ich mich doch vielleicht vor der Polizei verstecken muß, ohne die geringste Chance einer Nachricht von dir? Du müßt unbedingt mit mir kommen. In dem Ort, wo ich herkomme, kenne ich eine redliche Frau, und dort werd ich dich lassen, bis wir heiraten können. Wirst du mitkommen?«
»Ja, Jack, ich komme mit.«
»Gott segne dich für dein Vertrauen zu mir. Ich wäre ja eine Ausgeburt der Hölle, wenn ich es mißbrauchen würde. Und nun merk dir, Ettie: Es wird nur ein Stichwort sein; und wenn es dich erreicht, läßt du alles stehen und liegen und kommst sofort zur Wartehalle am Bahnhof; dort wartest du, bis ich dich abhole.«
»Bei Tag oder Nacht – ich werde auf das Stichwort hin kommen, Jack.«
Etwas erleichtert darüber, daß seine Vorkehrungen zur Flucht eingeleitet waren, setzte McMurdo nun seinen Weg zur Loge fort. Sie hatte sich bereits versammelt, und nur mit Hilfe von komplizierten Zeichen und Gegenzeichen konnte er die äußeren und inneren Türhüter passieren, die sie bewachten. Freudiges und willkommen heißendes Stimmengewirr empfing ihn, als er eintrat. Der langgestreckte Raum war dicht gefüllt, und durch die Schwaden von Tabaksqualm erkannte er die wirre schwarze Mähne des Stuhlmeisters, die grausamen, abweisenden Züge Baldwins, das Geiergesicht des Sekretärs Harraway, und ein Dutzend weitere, die zu den Anführern der Loge zählten. Daß sie alle da waren und nun über seine Neuigkeiten beratschlagen sollten, erfüllte ihn mit Freude.
»Wir sind wahrhaftig froh, daß du da bist, Bruder!« rief der Stuhlmeister. »Wir haben hier eine Sache, da braucht es die Urteilskraft eines Salomo, um sie in Ordnung zu bringen.«
»Es geht um Lander und Egan«, erklärte sein Nachbar, als er sich setzte. »Beide erheben Anspruch auf das Kopfgeld, das die Loge ausgesetzt hat für die Erschießung des alten Crabbe drüben in Stylestown; wer soll da entscheiden, wessen Kugel getroffen hat?«
McMurdo erhob sich von seinem Platz und streckte die Hand hoch. Sein Gesichtsausdruck ließ die Zuhörer vor Aufmerksamkeit erstarren. Es herrschte die absolute Stille gespannter Erwartung.
»Ehrwürdiger Meister«, sagte er feierlich, »ich stelle einen Dringlichkeitsantrag.«
»Bruder McMurdo stellt einen Dringlichkeitsantrag«, sagte McGinty.
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