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Das Tal der Wiesel

Das Tal der Wiesel

Titel: Das Tal der Wiesel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.R. Lloyd
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Tischdecke; beides hatte die Mutter des Mädchens noch in ihren letzten Lebenstagen fertiggestellt. Sie und Wilderer waren die Lebenskräftigsten, hatte er immer gedacht. Das Leben war seltsam – das Leben und der Tod. Die Maus auf der Schwelle. Eine nie erzählte Geschichte, beendet durch eine Katzenpfote.
    »Damals«, sagte der Mann, »als Wilderer und ich jung waren, gab es hier viel mehr Tiere als heute. Die Ratten liefen in Banden herum; die Wiesel haben sie gejagt. In einer dunklen Nacht konntest du leicht einer Rattenbande begegnen, Dutzende von diesen Burschen. In der Nacht schien der Feldweg lebendig zu sein, weil dort so viele Ratten herumrannten, wirklich. Als ich und Wilderer jung waren, sah man die Ratten überall.«
    »Armer alter Wilderer«, sagte das Mädchen. »Werden sie ihn wegbringen?«
    »Ins Krankenhaus, wie sie es ihm geraten haben? Auf keinen Fall.« Der Mann strich mit seiner schwieligen Hand über sein Kinn. »Wilderer und sich was von Krankenschwestern sagen lassen?« Er lächelte gedankenverloren. Wenn Wilderer jemals dem Willen einer Frau nachgegeben hätte, dann würde Wilderer und nicht er der Witwer sein; und das Mädchen würde ihm dann nicht, genauso wie ihre Mutter, sagen, wo er seine Pfeife ausklopfen konnte und wo nicht. Der Bauer war es gewesen, der nachgegeben hatte. Wilderer war nach Frankreich gegangen und dort ausgezeichnet worden, weil er Menschen getötet hatte, genauso wie er zu Hause fast alles getötet hatte, was sich bewegte. »Er würde eher in einem Graben sterben«, sagte der Vater des Mädchens.
    »Der verdammte Idiot!« Sie stand auf der Schwelle und blickte auf den Garten, wo Schatten raschelten, wo im Dunkel der Nacht irgend etwas vorbeilief. Sie schlug die Tür zu. »Der verdammte Idiot!« sagte sie. »Er und seine Wieselbanden.«
    Kia ist tot, schrie die Eule, und im Wald endete der unruhige Schlaf, in den Kias Gefährte gesunken war, mit einem schockierenden Gefühl von Verlust und Einsamkeit. Kine lag im Lebensbaum. Er hörte die Eule. Er hörte die Frösche in der Marsch und einen Kiebitz, der jenseits der Bäume schrie. Es gab viele Geräusche in dem finsteren Wald. Äste knarrten. Überall schnarchte, grunzte und wimmerte es. Nicht, was er hörte, ließ ihn erschauern, sondern das, was er in dem tragischerweise leeren Nest vermißte.
    In seiner Kindheit war er einmal aufgewacht und hatte feststellen müssen, daß er sich allein im Nest befand. Die anderen Jungen waren nach draußen gekrochen, wo er sie herzklopfend wiedergefunden hatte. Nun aber wußte er, daß Kia und ihre Nachkömmlinge unwiederbringlich verloren waren. Ihre warmen Körper und ihr feuchter Atem würden ihn nicht mehr in der Höhlung empfangen. Er mochte die Silberweide nicht mehr sonderlich, denn er dachte an Kias Befürchtung, daß der Baum verflucht wäre. Er hatte sich hier aus Gewohnheit schlafen gelegt, doch als er sich jetzt regte, verspürte er keine Lust, hier weiter herumzuliegen.
    Die Wut wallte wieder in ihm auf. Draußen erklang ein Getrappel, das möglicherweise von einem Kaninchen stammte, hielt einige Sekunden lang an, dann entfernte es sich. Er hörte das Quieken einer Waldmaus, das fast so schrill wie der Schrei einer Fledermaus war, doch er blieb ungerührt. Er hatte kein Verlangen danach, zu jagen. Das einzige Blut, nach dem es Kine gelüstete, war Nerzblut. Er bleckte seine Zähne. Er wollte, daß sie sich in den Nacken eines Monsters festbissen, daß sie zur tödlichen Falle wurden, einer Falle, die nicht einmal durch seinen eigenen Tod geöffnet werden konnte. Er schuldete Kia das Leben eines Nerzes.
    Ein weiteres Geräusch ertönte, und Kine lauschte angestrengt. In seiner Höhlung stieß er ein leises Zischen aus. Diesmal handelte es sich nicht um ein Kaninchen, der Schritt klang bedächtiger, gefährlicher. Kines Nackenhaare sträubten sich. Der Kiebitz war noch immer zu hören, sein Schrei weit entfernt, ohne Beziehung zu den umherstreifenden Gestalten in dem düsteren Wald, der nun, abgesehen von den Schallechos der Fledermäuse, in Schweigen gehüllt war. Das Geräusch ertönte erneut, ein unmerklicher Hinweis auf etwas Fremdes, dann war die Nacht ruhig.
    Kine blickte zu dem Loch hinauf, auf die abgenutzte Begrenzung seines Ausgangs zur Lichtung und zum See. Was sich auch bewegt hatte, es war leichtfüßig. Er streckte sich und spähte aus dem Weidenversteck. Auf diese Weise hatte er zum erstenmal die äußere Welt als umgekehrtes Bild im Mondsee erblickt,

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