Das Tal der Wiesel
und auf den Grasstreifen Furcht einflößten, den kleinen Tieren, die die Augen verdrehten und in die Erde flüchteten. Die Spitzmaus huschte davon; Wühlmäuse blinzelten ängstlich. Als die Wiesel schließlich den Galgen erreicht hatten, hielten sie an, und Kine holte tief Luft. Sie bezeigten dem morschen Querbalken mit den Gebeinen über ihren Köpfen ihre Hochachtung. Ein Wind kam auf, bewegte gespenstisch wirkende Holunderblüten und legte sich wieder. Eine Sekunde lang klapperten Knochen in vertrockneten Häuten – die toten Wiesel flüsterten.
Von Wolken und dunklem Blätterwerk eingerahmt, hingen die Opfer, in Reihen angenagelt, vor dem Sternenhimmel. Schmal und zusammengeschrumpft, nicht länger als der Fuß eines Menschen, hatte jede zerfallende Hülle einmal den kühnen Widerstandswillen der Wieselfamilie beherbergt. Ehrfürchtig rückten die Lebenden unter den Mumien näher zusammen. »Sie waren allein und ohne Furcht, trotzten der Eule und dem herabstoßenden Falken, dem Mann und dem Hund des Mannes; und bei unseren eigenen Heimsuchungen werden wir daran denken. Im Kampf werden wir uns ihrer erinnern.« Kine rief sich die Ehrerbietung seiner Mutter ins Gedächtnis zurück. Die Sterne funkelten. Er hörte eine weitere Stimme. »Ich würde mich weniger fürchten«, hatte Kia gesagt, »wenn mehr von uns da wären.«
Ford schob sich durch die Menge. »Genug Zeit vergeudet. Auf in die Marsch«, knurrte er wütend. »Um Kia und ihre Jungen zu rächen. Folgt dem Sumpfclan! Tod den Wieselmördern!«
»Zeig uns den Weg!« fauchte ein junges Heidewiesel. »Damit wir sie loswerden.«
»Gru soll sterben, die Teuflin, und Grus Brut!«
Es kam wieder Bewegung in die Wiesel, sie zischten und stampften, als sich der Regen ankündigte, als Luftwirbel über den Wald hinwegzogen. Das Volk wurde von einem Rausch ergriffen, von einer rasenden Wut, die Kine genauso stark fühlte wie sein hämmerndes Blut. Wiesel stießen gegeneinander und rempelten sich an. Ab und zu schnellte eins mit seinem leuchtendweißen Bauch aus der Menge in die Höhe oder sauste von den anderen davon und führte abseits von ihnen einen kurzen, einsamen Tanz auf.
»Auf in die Marsch!« tobte Ford.
»Tod den Nerzen!« riefen die anderen.
»Vorwärts!«
Doch als sie losstürmten, erklang eine Warnung, und sie wandten sich mit suchenden Blicken dem Galgen zu. Der Mond war verschwunden, verdunkelt von einer Wolke, und in der nach Heu duftenden Düsternis erschien der Neuankömmling wie ein entstellter Schatten, eine finstere, geisterhafte Gestalt, deren Warnschrei das Wieselvolk wieder zum Stehen brachte. »Halt! Ihr habt den Geist von Hühnern, aber nicht von Wieseln. Was ist mit eurer Taktik?«
»Zum Kanal!« rief Ford. »Zum Schlupfwinkel der Teufel!«
»Tod den Nerzen!« erklang es im Chor. »Zum Mullen-Kanal!«
Ford lief auf den Fremden zu. »Das ist die Art des Wiesels: angreifen und töten.«
»Zunächst einmal nachdenken ist die Art des Wiesels; auskundschaften und planen.« Für einen kurzen Moment teilte sich die Wolke, und das alte einäugige Wiesel stand im vollen Mondlicht, der erfahrene Alte, von dem Kia erzählt hatte und den Kine im Mondsee erblickt hatte. Kine arbeitete sich näher an ihn heran, dann verschwand der schwache Schein wieder, und die Dunkelheit kehrte zurück. Laut ertönte die rauhe Stimme des Alten: »Die Nerze sind tödlich; es sind die gefährlichsten Feinde, denen ihr jemals begegnet seid. Und ihr wollt ohne einen Plan auf sie losgehen? In der Marsch, auf ihrem eigenen Gebiet? Ist irgend jemand von euch schon einmal den Monstern begegnet?«
»Ja. Kia«, rief Ford. »Sie hat heldenhaft gekämpft – so wie wir kämpfen werden, um ihren Tod zu rächen. Wir Wiesel werden mit den Nerzen abrechnen.«
»Wir werden kämpfen«, schrie das junge Heidewiesel. »Wir haben keine Angst.«
»Ein Kampf«, sagte ihnen der Alte, »muß sorgfältig geplant werden, besonders wenn es gegen eine große Übermacht geht.« Er blickte nach oben, wo eine massive Wolkenwand allmählich den Himmel verdeckte. »Das Wetter muß beachtet werden und die Stärken und Möglichkeiten des Gegners. Ihr dürft bei der ersten Auseinandersetzung nicht dort ansetzen, wo er am stärksten ist, sonst kämpft ihr unter seinen Bedingungen. Ihr müßt euch gut vorbereiten und abwarten, den Überraschungsmoment mit einbringen, seine Schwächen ausnutzen.« Das Auge blitzte auf. Kine konnte sehen, daß sein verfilztes Fell mit vielen Narben bedeckt war.
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