Das Tal der Wiesel
undeutliche Gesichtszüge erschienen ein zweites Mal. Plötzlich schlug das kleine Tier schnell mit dem Schwanz, tänzelte einmal im Kreis und verschwand. Etwas im Maul tragend, kam die Wieselin wieder aus dem Ginstergebüsch hervor.
Sie lief zur Hecke zurück und legte die Kaninchenkeule vor Einauges Pfoten. Er war sprachlos. In all seinen Jahren hatte er noch nie von jemandem gehört, der so etwas fertigbringen konnte. Sie mußte noch den Winter kennenlernen, aber Kias Tochter hatte Wilderer scheinbar hypnotisiert. Ein Kaninchen so zu faszinieren, daß es stehenblieb, war nicht unmöglich. Aber einen derartigen Einfluß auf einen Menschen auszuüben … Selbst Zeuge davon, konnte er es doch kaum glauben. »Ist das immer so?« fragte er verwirrt.
»Ja, das ist immer so gewesen.«
»Hat man dir schon einen Namen gegeben?«
»Nein«, lächelte sie. »Ich habe niemals einen bekommen.«
»Du heißt ›Wunder‹«, knurrte er. »Ich habe dich soeben getauft.«
»Weil du mich magst, Einauge?«
Einauge schnaufte verächtlich. »Weil es ein Wunder ist, daß du noch am Leben bist«, meinte er zu ihr. »Weil es ein Wunder ist, daß du dich so benimmst, wie du dich benimmst; und weil du, Wunder über Wunder, auch noch Glück damit hast!«
Das Brummen des Mähdreschers begleitete das Mädchen auf dem Feldweg, der Wilderers Häuschen mit dem Bauernhaus verband. Die Erntezeit erinnerte sie an ihre Mutter; eine rehäugige, energische Frau voller Geheimnisse, die mysteriöse Dinge über die Marsch und von den Chis erzählte, die sich – Zigeunerlegenden nach – in Hasen und wieder zurück in Mädchen verwandeln konnten. Aber am besten von allen waren die Geschichten von der Kornblume, die sich in der Erntezeit ihre Zuflucht in den letzten noch stehenden Gersten- oder Weizenhalmen suchte.
Keiner von den Schnittern war begierig darauf, die letzten Halme zu schneiden. So teilten sich die Männer damals die Aufgabe, und selbst dann hüteten sie sich davor, zu nahe heranzugehen. Von einem sicheren Abstand aus warfen sie so lange mit Sicheln auf die Pflanzen, bis die Halme gekappt waren. Dann kleideten sie diese letzte Garbe wie eine Frau und ließen sie draußen stehen, damit Unwetter abgehalten wurden. Das Mädchen lächelte vor sich hin und wiegte sich in den Hüften, als sie nach Hause ging. Sie schritt in der munteren Gangart voran, die in diese ländliche Gegend paßte; an holprige Wege gewöhnt, trug sie Wilderers Schmutzwäsche mit lässiger Leichtigkeit auf ihrem Rücken.
Ihre Mutter hatte von der ›Letzten Fuhre‹ erzählt – wie, um die Ernte abzuschließen, der letzte Wagen von glockenbehangenen Pferden gezogen worden war und wie die Leute gezecht und grölend Erntelieder gesungen hatten. Das Mädchen erinnerte sich daran, wie ihre Mutter Verse vorgetragen hatte, die ihre Eltern und Großeltern einst lärmend von sich gaben, als die polternden Wagen die Augusternte eingefahren hatten.
Wir haben gepflügt, wir haben gesät,
Wir haben geerntet, wir haben gemäht,
Wir haben unsre letzte Last getragen
Und geben uns nicht geschlagen
Hip, hip, hip …
Wenn die Ernte heutzutage beendet war, stieg ihr Vater allein vom Mähdrescher, verpackte das auf dem Feld verbliebene Stroh mit Hilfe des Treckers in Ballen und brannte die Stoppeln ab. Die Kornmuhme war in Vergessenheit geraten. Doch nicht alles hatte sich geändert. Sie rückte das Wäschebündel zurecht. Er würde am Ende noch immer genauso schmutzig sein, und seine Kleidung würde nur noch dazu taugen, sich mit Wilderers Wäsche zusammenzutun, um dann von ihr gewaschen zu werden. Mein Gott, ich bin spät dran, dachte sie, als sie den Lieferwagen und den jungen Mann am Tor erblickte. Hastig setzte sie das Bündel im Garten ab. »Hast du schon lange gewartet?«
Er begrüßte sie verstimmt. »Ich bin es gewohnt.«
»Ich mußte noch etwas bleiben. Der arme Kerl ist zu oft allein.«
»Wundert dich das?« fragte der junge Mann schmollend.
Sie runzelte die Stirn und strich mit der Hand durch ihre Haare, die durcheinandergeweht worden waren. Im großen und ganzen war er geduldig gewesen, machte für Wilderer Besorgungen, wenn er konnte, und beschwerte sich nicht darüber, daß sie für ihre zusätzliche Arbeit einige Zeit aufwendete. Deshalb mochte sie ihn. Sie erwartete es auch von ihm und begegnete seinem Tonfall nun mit einem warnenden Blick. »Ich werde mich auch weiterhin um Wilderer kümmern, und er wird sich mit mir abfinden.«
»Das würde ich auch tun, in
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