Das Tal der Wiesel
üben.«
»Dann bist du mein Großvater«, rief sie mit einer Betonung, die ihm unpassend erschien. Es klang etwas altertümlich und zeigte gleichzeitig an, daß ein weiterer Sommer vergangen war, und Einauge standen nicht mehr viele bevor. Eine neue Generation war herangewachsen, während sich sein Rücken gekrümmt hatte. Die jungen Vögel flogen nun zusammen mit den älteren Tauben und Kiebitzen durch die Luft. Die umherschwirrenden jungen Stare kündigten die Winterschwärme an. August! Die Mauersegler zogen fort. Noch junge Weidenlaubsänger blickten neugierig einer Welt entgegen, die ihnen noch nicht ganz geheuer war. Und die kleine Wieselin sagte: »Du mußt schon sehr alt sein. Ich verstehe, warum Kine dich zurückgelassen hat, aber ich werde zu ihm gehen.«
Einauge verzog sein Gesicht. Meerlerchen kamen von der Marsch herüber, änderten plötzlich ihre Richtung, wodurch sich ihr graues Gefieder mit einem Aufleuchten weiß färbte. Unermüdlich zogen die Vogelschwärme vorüber. Brachvögel und Rotschenkel flogen tief, glitten über Reiher hinweg, die wie Wachtposten am Fluß standen, und verschwanden in dem Nebel auf der anderen Seite. Der Alte schüttelte mit dem Kopf. »Die Wiesel kann jetzt niemand erreichen. Sie befinden sich in dem großen Sumpf.«
»Dann werde ich hier auf ihn warten. Ich kann mithelfen, den Wald zu verteidigen, bis er zurückkommt.« Mit kecken Augen blickte sie ihn herausfordernd an. »Ich kann töten, weißt du? Ich bin kein Kind. Ich habe Wald- und Wühlmäuse getötet. Zuerst bin ich hilflos gewesen. Wilderer hat mir auf die Beine geholfen – hat Fleisch unter den Ginsterbusch gelegt. Er tut es immer noch, aber es ist nicht so gut wie frisches Fleisch. Stimmt doch, oder?« betonte sie nachdrücklich, als Einauge etwas erwidern wollte. »Das Fleisch von Wilderer ist kalt.«
»Wilderer!« Das alte Wiesel war entsetzt. »Du mußt dich von Wilderer fernhalten. Er ist gefährlich.«
»Unsinn. Ohne ihn würde ich nicht hiersein – ohne das Futter, das er mir zugeworfen hat.«
»Es ist eine Falle.«
Die Wieselin kicherte. Ihr vergnügtes Lachen schreckte ein graues Eichhörnchen auf, das eine Haselnuß unvergraben zurückließ und in einem Baum verschwand. »Armer Wilderer! Armer, kranker Wilderer! Seine Tage sind gezählt. Wenn er gerne meinen Tanzkünsten zusieht und mein glänzendes Fell von seinem Fenster aus bewundert«, sagte sie mit einer schelmischen Eitelkeit, »was ist dann schlimm daran? Komm mit, ich werde es dir zeigen.«
Einauge blickte finster. Sie führte ihn, das betörende Wesen, und setzte ihren Zauber an seine empfindlichen Stellen an. Tanzkünste! Sie hatte die Unverfrorenheit von ihrer Mutter geerbt. Sie verdiente eine Tracht Prügel, aber eine Elfe, so ein bezauberndes Geschöpf, konnte man doch nicht verprügeln. »Nur zu«, forderte er sie widerwillig auf. »Beweis mir dein Hirngespinst.«
Sie liefen am Waldrand entlang auf die Scheune zu, Kias Tochter hüpfte vorweg, dahinter folgte der Alte. Es war warm, und Schmetterlinge – Amerikanische Füchse und C-Falter – sonnten sich auf den Brombeersträuchern, doch die Unmenge wilder Blüten war verschwunden, und in den Nächten regten sich schon herbstliche Winde. Vereinzelte weiße Schafgarbenköpfe konnte man noch entdecken, einige Saudisteln blühten. Der Alte beachtete sie nicht. Sein einziges Auge sah nur eine Blüte: Sie hatte einen kastanienfarbenen Kopf und einen schneeweißen Bauch.
Vor Wilderers Hecke blieb sie stehen. Die scharlachroten Beeren des Aronstabs ragten über die gefleckten Blätter. »Du kannst ruhig kommen«, forderte sie ihn kurz auf. »Es ist nichts zu befürchten.«
Einauges Knurren klang ernst. »Genug ist genug. Das ist gefährlich.«
»Dann brauchst du mir nur zuzusehen«, sagte sie mit heiterer Stimme.
Seine Mahnung zur Vorsicht mißachtend, war sie auf den Weg gehüpft, wo sie sich unverfroren umdrehte und sich vor ihm verbeugte. Mit einem wichtigtuerischen Gehabe lief sie weiter. Die Sonne beleuchtete sie, als sie tanzte; ihre hin- und herhuschenden Pfoten blitzten ab und zu auf. Als sie in die Nähe der Tür gekommen war, hielt die betörende Elfe ein, balancierte auf ihren Hinterbeinen und begann sich zu putzen. Es war ein herausforderndes Benehmen, und sie fuhr damit fort, bis sie ihren menschlichen Zuschauer wahrnahm. Hinter dem oberen Fenster zeigte sich ein vergnügtes Gesicht, verschwörerisch beschlug die Scheibe und wurde wieder blank gewischt. Wilderers
Weitere Kostenlose Bücher