Das Tal der Wiesel
zurück!« Das Tier schluckte verzweifelt. »Der Pfad ist verschwunden. Überall nur Wasser.«
Kine rannte nach vorne. Im nächsten Moment wurde er von dem schaumigen Rand der leise plätschernden Flut gestoppt. Tatsächlich: Der Pfad, der vom Fluß kam, befand sich nun unter dem See. Sie standen auf dem letzten Streifen, der noch nicht überschwemmt worden war; aber wie sie bemerken mußten, schrumpfte auch dieser deutlich zusammen. Die Wiesel erschauerten. Patschend liefen sie zu dem einen Ende der feuchten Insel und beschnupperten furchtsam die ansteigende Flut, dann hüpften sie zum anderen Ende. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen. Sie rückten zusammen und betrachteten die weite Wasserfläche.
Ford untersuchte die Korbweiden. »Tut mir leid, Kine, eine Verwünschung der Gru. Sie hat uns mit einem Fluch belegt.«
»Wir haben nur Pech. Die Bäume?« Und als das Sumpfwiesel nickte: »Los, alle in die Weiden! Die Flut steigt rasch. Wir werden so lange in den Bäumen bleiben müssen, bis der Wasserspiegel wieder sinkt.«
Erschöpft kletterten sie nach oben. Es hatte aufgehört zu regnen. Aber der Wind war wieder stärker geworden, und die Dämmerung, ebenso trostlos wie die Flut, verwischte die Konturen der feuchten Gestalten. Die Sturmböen fauchten wütend. Sie waren schneidend, schlugen wie Wellen gegen ihre notdürftige Zuflucht und kündigten eine rauhe Nacht an.
»Werden wir überleben, Kine?« Das jüngste Wiesel suchte erneut nach einer Versicherung, seine Stimme klang traurig.
»Auf jeden Fall«, neckte ihn Kine, »werden wir nicht verdursten. Morgen früh werden wir weitersehen. Ruh dich erst einmal aus.« Was kaum möglich war. Der Sturm schüttelte sie unaufhörlich. Normalerweise hätten sich die Wiesel in ein warmes Versteck, in eine gemütliche Höhle zurückgezogen. Nun klammerten sie sich – wie die Mäuse an Getreidehalmen – an den Weidenruten fest, völlig allein in der dunkler werdenden Flut. Sie hörten keine Insekten; sie sahen keine Vögel. Aber später, als das Wasser tiefschwarz angelaufen war, durchbrach ein Frosch das Schweigen; sein kummervoller Monolog zerrte an Kines Nerven.
»Meine Güte noch mal!« rief er gereizt. »Ein Frosch im Wasser! – Du hast keinen Grund, dich zu beklagen.«
»Hast du noch nicht davon gehört?«
»Wovon gehört?«
»Es hat ein Blutbad gegeben. Gru ist über die Sippe der Zwölf Gründer hergefallen. Die Nerzin ist besessen, wahnsinnig geworden durch den Tod des Zwillings, den sie in die Welt gesetzt hatte. Zum ersten Mal hat sie die Monster auf die Seefrösche gehetzt. Die Kanäle boten nach dem Gemetzel ein grauenhaftes Bild. Seit den Tagen der großen Wanderung ist so etwas nicht mehr geschehen. Die Frösche wurden niedergemetzelt. Unter ihnen Bunda, klug und orakelhaft …«
»Bunda!«
Der Frosch stöhnte. »Und das ist nur der Anfang. Die Nerze sind blutdürstig wie nie zuvor.«
»Was ist mit Scrat?«
»Mit wem?«
Kine schwieg. Wasser plätscherte. Das Dunkel der Nacht versprach ihm wenig Hoffnung.
Der Morgen begann mit einer Fata Morgana: eine unglaubliche Wasserlandschaft. Der See schimmerte, und auf seiner Oberfläche hatten sich große Vogelschwärme niedergelassen. Seltsam war es, als ob sämtliche erschaffenen Wasservögel die halb ertrunkenen Bäume, in denen sich die Wiesel festhielten, umringten. Zierliche Seeschwalben ritten auf den kleinen, sonnengefleckten Wellen; neben ihnen sah man finster bückende Möwen und Ansammlungen von Stockenten. Bläßhühner schwammen herum; Krickenten tunkten ins Wasser. Eine Gruppe von Schwänen putzte sich, krümmte ihre geschmeidigen Hälse und breitete, sich leicht erhebend, ihre gewaltigen Flügel aus. Graubraune Vögel hatten sich versammelt und farbenprächtige Brandenten glänzten im Sonnenlicht; ihr Gefieder, weiß und kastanienbraun, wirkte irreal. Flügel surrten, und eine Wildentenschar neigte sich mit gereckten Hälsen anmutig dem Wasser entgegen.
Kine blinzelte. Es war ein wunderschöner Anblick, doch das Schauspiel verminderte weder die Härte einer äußerst unbequemen Nacht, in der man vom Hunger geplagt worden war, noch bot es einen Ausweg aus einer Notlage, die sich weiter verschlimmerte. Entkräftet durch die Strapazen und den Mangel an Futter, hielten sich die Wiesel an den kastanienbraunen Weidenruten fest. Sie waren ungeschützt und auffällig: Sie konnten schon aus weiter Ferne von Weihen und Sperbern entdeckt werden. Kine, der unbequem zwischen den Ruten hockte,
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