Das Tao der Physik
sich endgültig als die letzten Komponenten der Materie
erweisen würde.
Andererseits machten die Theorien der atomaren und subatomaren Physik die Existenz von Elementarteilchen zunehmend unwahrscheinlich. Sie enthüllten einen grundsätzlichen
Zusammenhang der Materie; sie zeigten, daß Bewegungsenergie in Masse umgewandelt werden kann, und wiesen darauf hin,
daß Teilchen Prozesse, keine Objekte sind. All diese Entwicklungen zeigten deutlich, daß wir das einfache mechanistische
Bild von Grundbausteinen aufgeben müssen, und doch scheuen
viele Physiker noch davor zurück. Die uralte Tradition, komplexe Strukturen dadurch zu erklären, daß man sie in einfachere Bestandteile zerlegt, ist im westlichen Denken so tief
verwurzelt, daß die Suche nach diesen Grundkomponenten
immer noch weitergeht.
Es gibt jedoch in der Teilchenphysik eine radikal andere
Denkrichtung, die von der Vorstellung ausgeht, daß die Natur
nicht auf Grundeinheiten, wie Elementarteilchen oder Grundfelder, zurückgeführt werden kann. Sie muß gänzlich durch ihre
Gesamtübereinstimmung erklärt werden können, d. h. durch
die Forderung, daß alle ihre Komponenten miteinander und
mit sich selbst in folgerichtiger Weise übereinstimmen. Diese
Idee der Gesamtübereinstimmung oder
»Selbstkonsistenz«,
wie sie im Fachjargon genannt wird, entstand im Rahmen der
S-Matrix-Theorie und ist als die »Bootstrap«-Hypothese bekannt.* Sie stammt von Geoffrey Chew, der diese Vorstellung
einerseits zu einer allgemeinen »Bootstrap«-Philosophie entwickelte und sie andererseits (in Zusammenarbeit mit anderen
Physikern) für die Konstruktion einer spezifischen, in S-Matrix-Sprache formulierten Teilchentheorie benutzte. Chew beschrieb die Bootstrap-Hypothese in verschiedenen Veröffentlichungen, 1 die die Basis für folgende Darstellung liefern:
Die Bootstrap-Philosophie macht in der modernen Physik
endgültig Schluß mit der mechanistischen Weltanschauung.
Newtons Universum war aus
einigen Grundeinheiten mit
gewissen fundamentalen Eigenschaften aufgebaut; es war von
Gott erschaffen und damit keiner weiteren Analyse zugänglich.
Auf die eine oder andere Weise war diese Vorstellung in allen
naturwissenschaftlichen
Theorien enthalten, bis die Bootstrap-Hypothese ausdrücklich feststellte, daß die Welt nicht als
eine Sammlung nicht weiter analysierbarer Einheiten verstanden werden kann. Die neue Weltanschauung betrachtet das
Universum als
dynamisches
Gewebe
zusammenhängender
Vorgänge. Keine der Eigenschaften irgendeines Teils dieses
Gewebes ist fundamental, sie alle ergeben sich aus den Eigenschaften der anderen Teile, und die Gesamtübereinstimmung
der gegenseitigen Wechselbeziehungen bestimmt die Struktur
des ganzen Gewebes.
So repräsentiert die Bootstrap-Philosophie den Höhepunkt
einer Ansicht von der Natur, die in der Quantentheorie mit der
Erkenntnis eines grundlegenden universellen Zusammenhangs
einsetzte, ihren dynamischen Inhalt durch die Relativitätstheorie bekam und in der S-Matrix-Theorie als Reaktionswahrscheinlichkeiten formuliert wurde. Gleichzeitig kam diese Ansicht der östlichen Weltanschauung immer näher und ist jetzt
im Einklang mit ihr, sowohl in ihrer allgemeinen Philosophie
als auch in ihrer spezifischen Auffassung der Materie.
* Der Ursprung des Ausdrucks »Bootstrap«, zu deutsch »Stiefelschlaufe«
wird weiter unten klar werden.
In der Bootstrap-Hypothese gibt es nicht nur keine Grundbausteine, sondern überhaupt keine fundamentalen Gesetze,
Gleichungen oder Prinzipien. Damit gibt sie eine weitere Vorstellung auf, die jahrhundertelang ein wesentlicher Bestandteil
der Naturwissenschaften war. Der Begriff von fundamentalen
Naturgesetzen ist vom Glauben an einen göttlichen Gesetzgeber abgeleitet, der in der jüdisch-christlichen Tradition tief
verwurzelt war. Mit den Worten des Thomas von Aquin:
Es gibt ein bestimmtes ewiges Gesetz, nämlich die Ratio, die im
Verstand Gottes existiert und das ganze Universum lenkt. 2
Dieser Begriff
eines
ewigen göttlichen Naturgesetzes übte
einen nachhaltigen Einfluß auf die westliche Philosophie und
Wissenschaft aus. Descartes schrieb über die »Gesetze, die
Gott in die Natur hineingelegt hat«, und Newton glaubte, daß
es das höchste Ziel wissenschaftlicher Arbeit sei, die »der Natur
von Gott auferlegten Gesetze« nachzuweisen. Für drei Jahrhunderte nach Newton blieb es das Ziel der Naturwissenschaftler, die letzten fundamentalen Naturgesetze zu entdecken.
In der modernen Physik hat
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