Das Tao der Physik
oder hören, sind nie die untersuchten Phänomene selbst, sondern nur ihre Auswirkungen. Die atomare und
subatomare Welt selbst liegt jenseits des Wahrnehmungsvermögens unserer Sinne.
Mithilfe der modernen Instrumente also sind wir dann in der
Lage, die Eigenschaften der Atome und ihre Bestandteile auf
indirekte Art zu »beobachten« und so die subatomare Welt bis
zu einem gewissen Maß zu »erfahren«. Dies ist jedoch keine
gewöhnliche, mit unserem täglichen Leben vergleichbare Erfahrung. Auf dieser Ebene ist das Wissen über die Materie nicht
mehr von direkten Sinneseindrücken abgeleitet, und daher
reicht unsere gewöhnliche Sprache, die ihre Bilder der Welt der
Sinne entnimmt, nicht mehr aus, um die beobachteten Phänomene zu beschreiben. Wenn wir tiefer und tiefer in die Natur
eindringen, müssen wir die Bilder und Begriffe der gewöhnlichen Sprache immer mehr aufgeben.
Auf dieser Reise in die Welt des unendlich Kleinen war vom
philosophischen Standpunkt der erste Schritt der bedeutendste: der Schritt in die Welt der Atome. Mit dem Eindringen in
das Atom und dem Erforschen seiner Struktur hat die Wissenschaft die Grenzen unseres sinnlichen Wahrnehmungsvermögens überschritten. Von diesem Punkt an konnte sie sich nicht
mehr mit absoluter Sicherheit auf Logik und Verstand verlassen. Die Atomphysik gestattete dem Wissenschaftler den ersten Einblick in das Wesen der Dinge. Wie die Mystiker hatten
jetzt auch die Physiker es mit einer nicht-sinnlichen Erfahrung
der Realität zu tun, und wie die Mystiker mußten sie sich mit
den paradoxen Aspekten dieser Erfahrung auseinandersetzen.
Die neue Physik 4
D. T. Suzuki nannte die direkte mystische Erfahrung der Realität »das aufregendste Ereignis, das im Bereich des menschlichen Bewußtseins auftreten kann . . . das jede Form genormter Erfahrung über den Haufen wirft« 1 , und er hat den schokkierenden Charakter dieser Erfahrung mit den Worten eines
Zen-Meisters erläutert, der es als »den Boden eines Eimers,
der durchbricht«, beschrieb.
Den Physikern ging es zu Beginn dieses Jahrhunderts ähnlich, und sie beschreiben diese Erfahrung auf eine Weise, die
der von Suzukis Zen-Meister sehr ähnelt. So schrieb Heisenberg:
Diese heftige Reaktion auf die jüngste Entwicklung der modernen
Physik kann man nur verstehen, wenn man erkennt, daß hier die
Fundamente der Physik und vielleicht der Naturwissenschaft überhaupt in Bewegung geraten waren und daß diese Bewegung ein Gefühl hervorgerufen hat, als würde der Boden, auf dem die Naturwissenschaft steht, uns unter den Füßen weggezogen. 2
Einstein erfuhr denselben Schock, als er zum ersten Mal mit der
neuen Wirklichkeit der Atomphysik in Berührung kam. Er
schrieb in seiner Autobiographie:
Alle meine Versuche, die theoretischen Grundlagen der Physik dieser neuen Art von Wissen anzupassen, haben völlig versagt. Es war,
als ob mir der Boden unter den Füßen weggezogen würde, mit keinem festen Fundament irgendwo in Sicht, auf dem man hätte bauen
können. 3
Die Entdeckungen der modernen Physik erforderten eine tiefgreifende Wandlung von Begriffen wie Raum, Zeit, Materie,
Objekt, Ursache und Wirkung etc., und da diese Begriffe für
unsere Weltanschauung so grundlegend sind, ist es nicht überraschend, daß die Physiker, die gezwungen waren, sie zu ändern, davon erschüttert wurden. Aus dieser Wandlung ging
eine neue, radikal andere Weltanschauung hervor, die immer
noch dem Prozeß der Um- und Neubildung durch die laufende
wissenschaftliche Forschung unterworfen ist.
In den beiden folgenden Zitaten drücken der europäische
Physiker Niels Bohr und der indische Mystiker Sri Aurobindo
die Tiefe und den radikalen Charakter dieser Erfahrung aus:
Die große Erweiterung unserer Erfahrung in jüngster
Zeit hat die Unzulänglichkeit unserer einfachen mechanischen Begriffe ans Licht gebracht und als Folge davon
die Fundamente erschüttert, auf denen die übliche Interpretation der Beobachtungen basierte. 4 Niels Bohr
Tatsächlich beginnen alle Dinge ihre Natur und ihre
Erscheinung zu verändern; unsere ganze Erfahrung von
der Welt ist radikal anders . . . Es gibt eine neue, gewaltige
und tiefe Art, die Dinge zu erfahren, zu sehen, zu kennen
und zu berühren. 5 Sri Aurobindo
Der folgende Abriß der Entwicklung der modernen Physik soll
zeigen, wie die klassische mechanistische Weltanschauung zu
Beginn dieses Jahrhunderts weichen mußte, als die Quantentheorie und die Relativitätstheorie uns zu einer viel
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