Das Tao der Physik
Zusammenspiel der beiden Gegensätze wird auch in unserer Nahrung reflektiert, die Elemente
von Yin und Yang enthält. Eine gesunde Ernährung besteht für
den Chinesen darin, diese Yin- und Yang-Elemente aufeinander abzustimmen. Die traditionelle chinesische Medizin beruht
ebenfalls auf dem Gleichgewicht von Yin und Yang im menschlichen Körper, und jede
Krankheit wird als Störung dieses
Gleichgewichts betrachtet. Der Körper besteht aus Yin- und
Yang-Teilen. Im ganzen gesehen ist das Körperinnere Yang,
die Oberfläche Yin; der Rücken ist Yang, die Vorderseite Yin;
im Körper gibt es Yin- und Yang-Organe. Das Gleichgewicht
zwischen all diesen Teilen wird durch einen kontinuierlichen
Fluß von ch'i oder »Lebensenergie« aufrechterhalten, die an
einem System von Meridianen entlangfließt, an denen die
Akupunktur-Punkte liegen. Mit jedem Organ hängt ein Meridian so zusammen, daß Yang-Meridiane zu Yin-Organen gehören und umgekehrt. Immer, wenn der Fluß zwischen Yin und
Yang blockiert ist, wird der Körper krank. Die Krankheit wird
geheilt, indem man Nadeln in die Akupunktur-Punkte sticht
und den Fluß des ch'i wieder in Gang setzt.
Das Zusammenspiel von Yin und Yang, des Ur-Gegensatzpaares, erscheint so als das alle Bewegungen des Tao leitende
Prinzip, aber die Chinesen blieben hier nicht stehen. Sie fuhren
fort, verschiedene Kombinationen von Yin und Yang zu studieren, aus denen sie ein System kosmischer Archetypen entwikkelten. Dieses System ist im / Ching oder »Buch der Wandlungen« dargelegt.
Das »Buch der Wandlungen« ist das erste unter den konfuzianischen Klassikern und ist als das Werk anzusehen, das direkt in das Herz des chinesischen Kultur- und Gedankengutes
führt. Die Autorität und Wertschätzung, die es in China über
Jahrtausende genoß, ist nur mit den heiligen Schriften anderer
Kulturen, wie den Veden oder der Bibel, vergleichbar. Der bekannte Sinologe Richard Wilhelm beginnt die Einführung seiner Übersetzung des Buches mit folgenden Worten:
Das Buch der Wandlungen, chinesisch / Ging, gehört unstreitig zu
den wichtigsten Büchern der Weltliteratur. Seine Anfänge reichen
in mythisches Altertum zurück. Bis auf den heutigen Tag beschäftigt es die bedeutendsten Gelehrten Chinas. Fast alles, was in der
3000 Jahre alten chinesischen Geschichte an großen und wichtigen
Gedanken gedacht wurde, ist teils angeregt durch dieses Buch, teils
hat es rückwirkend auf die Erklärung des Buches Einfluß ausgeübt,
so daß man ruhig sagen kann, daß im/ Ging die reifste Weisheit von
Jahrtausenden verarbeitet ist. 12
Das »Buch der Wandlungen« ist somit ein Werk, das über die
Jahrtausende organisch gewachsen ist. Es besteht aus vielen
Schichten, die den wichtigsten Perioden des geistigen Schaffens
in China entstammen. Der Ausgangspunkt des Buches war eine
Sammlung von vierundsechzig Figuren oder Hexagrammen,
die auf dem Yin-Yang-Symbolismus basieren und als Orakel
benutzt wurden. Jedes Hexagramm besteht aus sechs Linien,
entweder unterbrochen (Yin) oder durchgehend (Yang), und
die vierundsechzig umfassen zusammen alle ihrer mathematisch möglichen Kombinationen.
Diese Diagramme, die später im einzelnen erläutert werden,
wurden als kosmische Urtypen betrachtet. Sie repräsentieren
die Strukturen des Tao in der Natur und in menschlichen Situationen. Jedes von ihnen erhielt einen Titel und wurde durch einen kurzen Text ergänzt, genannt »das Urteil«, um den Handlungsverlauf anzugeben, der seiner kosmischen Struktur entsprach. Das sogenannte »Bild« ist ein anderer kurzer Text, der
später hinzugefügt wurde und der die Bedeutung des Hexagramms in wenigen, oft äußerst poetischen Zeilen darstellt. Ein
dritter Text deutet jede der sechs Linien des Hexagramms in
einer an mythischen Bildern reichen Sprache, die oft schwer zu
verstehen sind.
Diese drei Textkategorien bilden die grundlegenden Teile
des Buches, die für Weissagungen benutzt wurden. Ein kompliziertes Ritual unter Verwendung von fünfzig Schafgarbenhalmen wurde angewendet, um das der persönlichen Situation des
Fragestellers entsprechende Hexagramm zu bestimmen. Man
wollte die kosmische Struktur dieses Augenblicks im Hexagramm sichtbar machen und vom Orakel erfahren, welche
Handlungsweise angebracht sei:
In den Wandlungen sind Bilder, um zu zeigen; es sind Urteile beigefügt, um zu erläutern; es wird Heil oder Unheil bestimmt, um zu
entscheiden. 13
Der Zweck der Befragung des/ Ching war somit nicht bloß das
Erkennen der Zukunft,
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