Das Tao der Physik
gegensätzlich hielten, am Ende Aspekte derselben
Sache sein sollen. Im Osten jedoch wurde es immer als wichtig
für die Erleuchtung betrachtet, »über irdische Gegensätze hinaus« 5 zu gehen, und in China liegt die polare Beziehung aller
Gegensätze direkt an der Basis des taoistischen Denkens. So
sagt Chuang-tzu:
»Dieses« ist auch »Jenes«. »Jenes« ist auch »Dieses« . . . Die eigentliche Essenz des Tao ist, daß »Jenes« und »Dieses« aufhören,
Gegensätze zu sein. Diese Essenz allein, als Achse gleichsam, ist der
Mittelpunkt des Kreises und reagiert auf die endlosen Wandlungen. 6
Aus der Ansicht, daß die Bewegungen des Tao ein kontinuierliches Zusammenspiel von Gegensätzen sind, leiten die Taoisten
zwei Grundregeln für menschliches Verhalten ab. Wer irgend
etwas erreichen will, sagen sie, soll mit dem Gegenteil beginnen. So spricht Lao-tzu:
Um zu verkleinern, muß man sicher erst erweitern.
Um zu schwächen, wird man sicher erst stärken.
Um niederzuwerfen, wird man sicher erst erhöhen.
Um zu nehmen, wird man sicher erst geben.
Dies nennt man subtile Weisheit. 7
Wenn man andererseits etwas behalten will, soll man darin etwas von seinem Gegenteil zulassen:
Sei gebogen, und du wirst gerade bleiben. Sei leer, und du wirst voll bleiben.
8 Sei abgenutzt, und du wirst neu bleiben.
Dies ist die Lebensart des Weisen, der auf einer höheren Warte
steht, von der aus die Relativität und der polare Zusammenhang aller Gegensätze klar wahrgenommen werden. Diese Gegensätze schließen vor allem die Begriffe von Gut und Böse ein,
die genauso zusammenhängen wie Yin und Yang. In Erkenntnis der Relativität von Gut und Böse und somit aller ethischen
Normen strebt der taoistische Weise nicht nach dem Guten,
sondern versucht eher, ein dynamisches Gleichgewicht zwischen Gut und Böse herzustellen. Chuang-tzu spricht dies deutlich aus:
Die Sprüche: »Sollen wir nicht dem Recht folgen und es ehren und
nichts mit dem Unrecht zu tun haben? « und »Sollen wir nicht denen
folgen und die ehren, die eine gute Regierung sichern, und nichts
mit denen zu tun haben, die Unordnung hervorrufen? « zeigen einen
Mangel an Kenntnis der Prinzipien von Himmel und Erde und der
verschiedenen Eigenschaften der Dinge. Es ist, als wenn man dem
Himmel folgt und ihn ehrt und die Erde nicht in Betracht zieht, als
wenn man dem Yin folgt und es ehrt und das Yang nicht in Betracht
zieht. Es ist klar, daß solch ein Kurs nichts taugt. 9
Es ist erstaunlich, daß zur gleichen Zeit, als Lao-tzu und seine
Anhänger ihre Weltanschauung entwickelten, die wesentlichen
Züge dieses Taoismus auch in Griechenland gelehrt wurden,
von einem Mann, dessen Lehren uns nur in Fragmenten bekannt sind und der bis heute oft mißverstanden wurde. Dieser
griechische »Taoist« war Heraklit von Ephesus. Er teilte mit
Lao-tzu nicht nur die Betonung des ständigen Wandels, was er
mit seinem berühmten Wort »Alles fließt« zum Ausdruck
brachte, sondern auch die Vorstellung, daß alle Wandlungen
zyklisch sind. Er verglich die Weltordnung mit einem »ewigen
Feuer, aufflammend nach Maß und erlöschend nach Maß« 10 ,
ein Bild, das der chinesischen Vorstellung vom Tao mit seinem
zyklischen Zusammenspiel von Yin und Yang entspricht.
Es ist leicht einzusehen, wie dieses Konzept vom Wandel als
dynamisches Zusammenspiel von Gegensätzen Heraklit sowie
Lao-tzu zu der Entdeckung führte, daß alle Gegensätze polar
und somit vereinigt sind. »Der Weg nach oben und nach unten
ist ein und dasselbe«, sagte der Grieche, und »Gott ist TagNacht, Winter-Sommer, Krieg-Frieden, Sattsein-Hunger.« 11 Wie die Taoisten sah er jedes Paar von Gegensätzen als Einheit
und war sich der Relativität all dieser Begriffe wohl bewußt.
Wieder erinnern uns die Worte Heraklits: »Kaltes erwärmt
sich, Warmes kühlt ab, Feuchtes trocknet, Trockenes wird
feucht« 12 , stark an die des Lao-tzu: »Das Leichte bedingt das
Schwierige . . . Resonanz harmonisiert den Klang, das Später
folgt dem Vorher.« 13
Überraschenderweise ist die große Ähnlichkeit der Weltanschauung dieser beiden Weisen des sechsten Jahrhunderts v.
Chr. nicht allgemein bekannt. Heraklit wird oft im Zusammenhang mit der modernen Physik erwähnt, aber kaum je in Verbindung mit dem Taoismus. Diese Perspektive zeigt jedoch am
besten die Parallele zwischen seinen Anschauungen und denen
der modernen Physik.
Wenn wir über den taoistischen Begriff des Wandels sprechen, müssen wir uns klarmachen, daß dieser Wandel nicht
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