Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Die Stimme von Samuel van Berck.
»Versprich mir, dass du nicht wieder schreist«, zischte er. »Ich habe deine Widerspenstigkeit gründlich satt! Mach endlich, was ich sage, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Nat spitzte die Ohren. Sagte so was ein verliebter Mann? Nie und nimmer!
Wenn er sichs recht überlegte, hatte das Mädchen aus der Kapelle noch etwas gut bei ihm. Schließlich hatte sie ihn vor Dudleys Soldaten gerettet. Er tastete nach seiner Schleuder. Da traf ihn ein harter Schlag, bevor er sie aus dem Hosenbund ziehen konnte. Ein beiläufiger Schlag. Achtlos, wie für einen lästigen Köter bestimmt.
Als die Geräusche im Obsthain endlich verstummten, ließ Samuel van Berck den Dolch sinken und löste seine Finger zögernd von Cass’ Mund.
»Die Pest über dich, du Mistkerl!«, zürnte sie und stieß ihn von sich weg. »Jetzt du hast mich zum zweiten Mal zu Tode erschreckt. Verschwinde endlich. Ich hasse dich!«
»Das steht dir frei«, zischte der Spanier. »Allerdings habe ich dir gerade das Leben gerettet. Irgendwer treibt sich hier herum. Vielleicht Dudleys Leute, und die sind keinem von uns beiden wohlgesinnt.«
Samuel zerrte sie am Handgelenk wieder auf die Mauer vor dem Themsekai zu. Er drehte sie zu der Ziegelwand, beugte sich leicht vor und bildete mit den Händen einen Korb.
»Nun mach! Setz deinen Fuß hinein und zieh dich an der Mauer hoch. Ich muss zurück. In weniger als einer Viertelstunde ist es taghell.«
Ungläubig betrachtete Cass seinen gebeugten Rücken, das gesenkte Haupt, die verschlungenen Finger. Wie alt war sie gewesen, als sie das letzte Mal einen kräftigen Stallburschen überredet hatte, ihr die Räuberleiter zu machen, um einer Gebetsstunde mit Lady Dudley oder der Hundegerte von Lord Dudley zu entgehen? Sechs Jahre? Zehn? Mit vierzehn hatte sie einen Stallburschen küssen müssen, um sich ein Pferd für einen heimlichen Ausritt zu leihen. Sie hatte das Küssen zuvor beim Karpfenteich geprobt mit einem sehr verschwommenen Spiegelbild, und sie war sich reichlich albern dabei vorgekommen. Doch lange nicht so albern wie jetzt.
»Du willst mir wirklich helfen«, stammelte sie, ohne nachzudenken.
Der Spanier riss fassungslos den Kopf hoch. »Nein, ich spiele nur gern mit meinem Leben. Was soll diese dumme Frage?«
Ein Kichern stahl sich in Cass hoch. Schnell presste sie die Hand vor den Mund. Noch einmal meinte sie, den kalten Klingenstahl von Samuel van Bercks Dolch auf ihrer Kehle zu spüren. Und die grenzenlose Erleichterung, als er ihn weggesteckt hatte. Konnte es sein, dass dieser Mann wirklich ihr Retter war und sonst nichts?
»Ich dachte, du hättest den Auftrag, mich zu töten«, platzte sie heraus.
Samuel starrte sie kopfschüttelnd an. »Sidney hat dir gesagt, dass ich mein Ehrenwort gegeben habe, dich aus dem Palast zu bringen!«
»Und vorher hast du mich verraten«, entgegnete Cass.
»Ich habe dich gewarnt! Du bist die undankbarste, dreisteste Dirne, die mir je untergekommen ist. Du selbst hast dich verraten. Schon damals in der Kirche! Ich arbeite nun einmal für die Spanier, und du arbeitest anscheinend für den, der am meisten zahlt.«
Cass holte aus. Samuel schlug ihre Hand zur Seite. »Das hatten wir schon. Es soll Freier geben, die solch eine Behandlung schätzen! Ich gehöre nicht dazu.«
»Nenn mich nicht ständig Hure. Immerhin hast du Geld genommen, um mich herauszubringen! Gegen deine Überzeugung und gegen deinen Glauben. Wie nennt man solche Geschäfte? Ein frommes Werk?«
»Das Geld, das ich bekommen habe, dient einer guten Sache. Es gibt Flüchtlinge, die keine mächtigen Beschützer haben und die weit weniger komfortabel ausgestattet sind als du.«
»Ich besitze nichts weiter als die Kleider auf meinem Leib.«
»Die sind zugegeben spärlich. Nun, du wirst sie gleich gegen das Kleid einer Magd eintauschen.«
Cass schüttelte den Kopf. »Das ... Das kann ich nicht ... Bitte gib mir das Geld, das du bekommen hast«, flehte sie. »Ich ...«
»Zur Hölle mit deiner Gier!«, schnitt Samuel ihr das Wort ab. Er fasste sie kurzentschlossen um die Hüften und stemmte sie nach oben. Cass ruderte mit den Armen und fasste nach einem vorstehenden Bänderwerk aus Ziegeln. Der junge Mann gab ihr einen Schubs. Mit dem rechten Fuß fand sie Halt auf einem vorspringenden Stein und hievte sich auf die Mauerkrone. Gelenkig schwang sie ein Bein hinauf und kam rittlings auf der Brüstung zu sitzen.
»Und nun spring!«, befahl van Berck. »Ich muss zurück,
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