Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
seinem Versteck vorbeigehetzt und hatte sich nur eine Armlänge von ihm entfernt ihres Mieders entledigt. Für ein Stelldichein? Mit wem? Den Mann mit der Armbrust hatte er aus den Augen verloren. Aber bewaffnet wollte er doch wohl kaum zu einem Schäferstündchen. Dafür musste der dritte Mann zuständig sein. Hm, reichlich ungehobelter Kavalier, draufgängerisch wie Bess’ Landsknechte, aber verflucht geschickt im Anschleichen. Die dunkle Gestalt war wie aus dem Nichts aus dem Boden gewachsen. Nat kniff die Augen zusammen, um von seinem Posten unter dem Haselstrauch den Mann zu studieren, der das Mädchen eben sehr energisch von der Mauer weggerissen hatte. Es war ...
Zur Hölle mit diesem Spanier, dachte Cass! Er musste ihr die ganze Zeit auf den Fersen gefolgt sein. Erbost blitzte sie ihn an.
»Nicht hier, du Närrin!«, stieß ihr Verfolger gedämpft hervor und packte sie beim Handgelenk.
»Ich brauche keine Hilfe, um über eine Mauer zu klettern!«, zischte Cass. Sie stemmte die Fersen in den Boden und vergrub ihre Hände im Spaliergezweig. »Mag sein, aber du würdest auf der anderen Seite direkt einem Wachposten in die Arme springen.«
Der Spanier zerrte sie von der Mauer weg. Von der anderen Seite klangen dumpfe Rufe zu ihnen herüber.
»He, wer da?«
»Mach keinen Aufstand, gleich is Wachablösung! Is sicher nur ein verirrtes Wildschwein«, antwortete eine übernächtigte Stimme. »Solln sich die Gärtner drum kümmern! Wir stehn nicht hier, um Äpfel zu bewachen.«
Cass erstarrte. Verdammt, ihr Verfolger hatte recht. Ein Sprung über die Mauer an dieser Stelle hätte ihre Flucht sofort beendet. Widerwillig ließ sie sich mitziehen und stolperte hinter dem Spanier her.
Wieder wehten soldatische Stimmen über sie hinweg. Diesmal brüllten sie Kommandos zum Wachwechsel, das übliche Gott schütze unseren König folgte, dann ein kurzer Fanfarenstoß, das exakt getaktete Stampfen von Stiefeln auf dem Pflaster.
Flink und lautlos folgte der Spanier dem Mauerverlauf. Sein Geschick verriet den geschulten Waffengänger – und Spitzel. Cass versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Was blieb ihr übrig?
Die Glocken der ehemaligen Franziskanerkirche schlugen zwei Mal an. Noch eine halbe Stunde, dann war es sechs Uhr. Der Spanier hielt an und presste sich eng an die Mauer.
»Hier«, flüsterte er und wandte sein Gesicht Cass zu. Es verriet höchste Anspannung.
Im ersten Licht des Morgens wirkte es weniger grimmig und düster als beim wechselhaften Schein der Fackeln. Er war nicht viel älter als sie, sein Haar schwarz wie Rabenschwingen, in kristallfarbenem Blau fing sich Licht in dem Opal an seinem Ohr.
»Wartet auf der gegenüberliegenden Seite wirklich ein Bootsmann?«, fragte sie misstrauisch.
Der junge Mann nickte knapp. »Was sonst? Die Losung lautet omnia vindt amor , die Liebe überwindet alles. Kannst du dir das merken?«
»Ich verstehe das Lateinische sehr gut.«
»Aber nichts von der Liebe«, konterte der Spanier abfällig.
Das Knacken verdorrter Äste ließ beide zusammenzucken. Tastende Schritte wurden in den Obsthainen laut. Cass duckte sich und spähte gehetzt zurück zum Palast. In den Korridoren des königlichen Flügels verloschen letzte Lichter, auch de Selves Gemächer lagen im Dunkeln. Wieder das Geräusch von brechendem Holz.
Cass’ Herz raste. Konnte es sein? War das er? Sie öffnete den Mund, aber bevor sie rufen konnte, packte der Spanier sie und zog sie hinter einen Strauch. Sein Dolch blitzte auf. Mit schlanken Fingern hielt er den Griff umklammert und drückte die Klinge gegen ihren bloßen Hals.
Verdammte Hurenscheiße! War er jetzt am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, wie Enoch vorhergesagt hatte? Nat verzog nachdenklich den Mund. Was er gerade bei der Mauer gesehen hatte, sah fast danach aus. Obwohl Samuel van Berck wirklich alles andere als ein Kavalier war. Ein Mädchen nach nem bisschen Gewisper einfach so ins Gebüsch zu zerren, noch dazu eins, das nur halb bekleidet war!
Er zuckte mit den Achseln, Liebe war nun mal seltsam. Vielleicht würde dieser van Berck bei dem, was er im Gebüsch vorhatte, seinen Opal-Ohrring verlieren, und er selber wäre alle Sorgen los. Wäre sicher kein Diebstahl, den Stein hinterher aufzulesen. Nicht wirklich jedenfalls, und ziemlich ungefährlich.
Sofern der Kerl mit der Armbrust nicht irgendwo lauerte.
Lautlos robbte er sich dichter an das Gebüsch bei der Mauer heran, wo das Paar verschwunden war. Eine Stimme ließ ihn innehalten.
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