Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Stoße sie nicht so von dir! Du bist ihre einzige Verbindung zur Vergangenheit. Hilf ihr, dass sie sich wieder erinnern kann.«
Samuels Miene verhärtete sich immer mehr. »Ich bin ihre Zukunft, das wird ihr reichen, glaube mir.«
Seine Mutter schüttelte den Kopf. »Das wird es nicht. Cass kann sich nicht an ihre Herkunft, an ihre Familie oder an Freunde erinnern. Das muss grausam quälend sein, die schrecklichste Form der Heimatlosigkeit.«
Ihr Sohn hob einen Herzschlag lang die linke Braue. Ein müder Abglanz seiner Spottlust. »Ich finde die Leistungen ihres Gedächtnisses in entscheidenden Fragen überaus bemerkenswert.«
»Was willst du damit sagen? Was ist in jener Nacht in Greenwich geschehen und was davor?«
Ihr Sohn wich ihrem Blick aus. »Ich habe versucht, das Leben einer Glaubensverfolgten zu retten, getreu den Gesetzen der Opal-Bruderschaft und gegen meine Überzeugung, und dafür habe ich Unverzeihliches getan. Mehr musst du nicht wissen.«
»Wie kannst du so gefühllos sein! Ich erkenne dich nicht wieder.« Unmöglich konnte es hier nur um eine Frage von unterschiedlichem Glauben gehen. Worum dann?
»Glaube mir, Mutter, ich habe sehr viele Gefühle für diese Frau, aber keins davon würde dir gefallen. Hätte ich sie nicht – wie manch anderer – einen Augenblick lang für einen Engel in Menschengestalt gehalten, würde sie mir jetzt nicht wie eine Teufelin erscheinen.«
Lunetta schwieg betroffen. Womit und wozu auch immer das Mädchen ihren Sohn verführt haben mochte, zumindest Barmherzigkeit hatte Cass verdient. Lunetta hatte sie während ihrer Genesung als tapfere junge Frau kennengelernt. Ein Mädchen, das nur zögernd Vertrauen fasste und einen verzweifelten Kampf gegen einen brennenden Zorn in sich führte. Sie war sich nicht sicher, wie viele Erinnerungen Cass sich inzwischen zurückerobert hatte, aber sie fühlte, dass die Gegenwart dieser jungen Frau eine Wunde war und die Vergangenheit ein Netz aus schlecht verheilten Narben. Warum blieb ihr Sohn so kalt? Wut stieg in Lunetta hoch und damit die Erinnerung an die eigene Jugend als heimatlose Tochter einer Tarotspielerin, die man auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatte.
»Samuel! Das Mädchen erwartet dein Kind!«
Er straffte wie zur Abwehr den Rücken und schwieg. »Darum bin ich hergekommen«, sagte er schließlich. »Deine Briefe nach Canterbury waren mehr als deutlich. Du verlangst, dass ich heirate. Ich werde meine Pflicht tun.«
»Bedeutet dieses Mädchen dir denn gar nichts?«
»Das spielt keine Rolle.«
Lunetta legte ihre Hand auf seinen rechten Arm. »Bitte«, sagte sie eindringlich. »Sie ist noch immer schwach. Ich hatte große Sorge um sie, sie war schwer krank und verzweifelt. Ich glaube, allein der Gedanke an das in ihr wachsende Leben hat auch sie am Leben erhalten.«
»Tröste dich. Dein großes Herz, dieses wundervolle Haus und deine Medizin werden ein Übriges getan haben«, sagte Samuel trocken.
»Freu dich wenigstens, dass sie und das Kind leben!«, rief seine Mutter empört.
»Ich habe Cass niemals den Tod gewünscht, und ich habe alles getan, um ihn zu verhindern. Aber verlange von mir weder Freude noch Dankbarkeit dafür, dass sie sich so unverhofft ihrer Liebe für mich erinnert. Was ich tue, tue ich, weil ich mein Gewissen nicht zum Schweigen bringen kann. Sie besitzt darin mehr Übung.«
Lunetta sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten und Zorn wie ein Blitzschlag durch seinen Körper fuhr.
Vor der Tür wurden Schritte laut. »Das wird sie sein. Ich werde euch eine Weile allein lassen.«
»Wir haben nicht viel miteinander zu bereden. Ich muss noch heute Nacht nach Greenwich zurück. Zumindest als Scheyfves Spitzel kann ich meinen Überzeugungen treu bleiben.« Er lachte bitter auf.
Lunetta unterdrückte einen Seufzer. »Bitte, Samuel, sei freundlich zu Cass. Ich weiß, sie hat es verdient. Jeder Mensch ist wie der Mond, er hat eine dunkle Seite. Dein Vater sagt immer, es kostet mehr Mut, sich der Hoffnung zu stellen, als sie aufzugeben.«
»Hoffnung? Worauf? Ich gebe meine Freiheit und mein höchstes Ziel für dieses Mädchen auf, das sollte genügen.«
»Die Freiheit hättest du auch als Jesuit verloren!«, versetzte seine Mutter aufgebracht.
»Aber immerhin wäre das meine Entscheidung gewesen«, erwiderte Samuel schroff.
»Du hast nicht das Recht, Cass ins Unglück zu stürzen, nur weil du der Lust deiner Lenden gehorcht hast! Sie ist noch ein halbes Kind. Sei um Gottes willen nicht
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