Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
klang. Der Mann hingegen grunzte und quiekte nur noch und flehte: »Bitte, Bess! Für zwei Pence muss Küssen auch mal drin sein. Ich hab so einen anstrengenden Ritt hinter mir.«
Bess lachte schrill auf. »Aber nicht auf mir. Hat ja ewig gedauert diesmal. Hau ab, du Wanze von Greenwich, bevor ich demnächst das Doppelte dafür verlange, dass ich dir den Hintern versohle.«
Verwundert hörte Cass mit an, dass der Freier mit einer sich überschlagenden Jungenstimme antwortete. Er konnte kaum älter sein als fünfzehn oder sechzehn. »Schlag das nächste Mal fester zu, Bess, dann überleg ich es mir. Bitte! Ich mag dich.«
»Reiß dein Maul nicht so weit auf, meinste, ich bin zum Vergnügen hier?«
»Kann ich nachher nochmal kommen? Ich muss nur kurz zum Propheten.«
»Nee, heute nich, ich hab nebenan zahlenden Nachtbesuch und will mal vor Sonnenaufgang Schluss machen.«
»Auch nicht für drei Pence? Ich kann was abzwacken, hab reichlich verdient. Ich nehm inzwischen von allen Seiten Aufträge an und begeb mich in jede Gefahr. Nur für dich. Wenn alles klappt, hol ich dich hier weg, wie versprochen.«
In Bess’ Verschlag wurde die Stiegenluke aufgerissen. »Einen Tritt in den Arsch kannst du Gernegroß umsonst kriegen, und jetzt raus!«
Kopfschüttelnd stand Cass in der stockfinsteren Kammer. Ein plätscherndes Geräusch verriet ihr, das Bess ihr Nachtgeschirr nutzte. Dann schob sie sich ächzend auf ihr Lager, gähnte vernehmlich und verabschiedete sich mit einem Gebet in den Schlaf. »Jessas, was fürn Schafskopf! Na, schütz mir den Trottel und lass ihn lang leben. Amen.«
Cass tastete sich zurück auf ihr Lager. Wie hässlich und roh der Handel mit der Lust war. Wie trostlos und beschämend.
»Wir alle sind geboren im Käfig der Sünde! Genieße es, öffne dich deiner verborgenen Begierde« , forderte de Selves Stimme in ihr.
Nein! Nein! Sie schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht. Sie war gewiss keine ... »Hure«, vollendete Samuel van Bercks Stimme ihren Gedanken. Ein Wort wie ein Messer, es traf auf eine sehr frische Wunde. Hure – wie konnte dieses Wort nur auf sie und den Mann mit dem Pechhaar passen? Und warum – wenn es doch passte – hatte er sie heiraten wollen? Weder ihr Geist noch ihr Herz oder ihr Körper gaben Erinnerungen an ihn preis. Keine Gerüche von Sinnlichkeit, keine intimen Berührungen und – so stellte sie verblüfft fest – keinen Schmerz. Außer den Schmerz der Sehnsucht.
Sie schlich sich in Gedanken zurück zu dem Augenblick im Kontor, als Samuel mit gebeugtem Rücken vor ihr stand, staunend und – voller Mitgefühl. Cass begann zu zittern. Seine Kälte schien ihr mit einem Mal um vieles erträglicher. Frische, ungetrübte Erinnerungen an Lunettas Fürsorge in den vergangenen Wochen drängten nach. Die Stunden, in denen die heilkundige Frau an ihrem Bett gesessen hatte, obwohl eigener Kummer auf ihr zu lasten schien. Entschlossen hatte diese Unbekannte alles getan, um sie und das wachsende Leben zu retten. Weil sie es für ihr Enkelkind hielt. Jeden Morgen hatte Lunetta ihr liebevoll das Haar gebürstet und erzählt, dass man in ihrer Heimat Spanien sage, jeder Kammstrich zöge eine Sorge aus dem Haar. Wenn es nur so sein könnte!
Das Haus van Berck war ein Haus der Liebe, der Fürsorge und der gegenseitigen Achtung, doch Cass’ Herz hatte darauf keine Antwort gehabt. Wie tot und steinschwer hatte es in ihrer Brust gelegen, voller Angst und Abwehr. Seit heute Abend wusste sie, warum: Tief in ihrem Innern hatte sie geahnt, dass alles an dieser Zuneigung auf Täuschung beruhen musste.
Sie gehörte nicht in dieses Haus. Sie wollte keine unverdiente Barmherzigkeit. Nicht von einer Frau, die sie – wenn auch unwillentlich – hintergangen hatte. Und erst recht wollte sie kein Mitleid von Samuel, dem Mann mit dem Pechhaar. Sie brauchte etwas anderes.
Omnia vindt amor , flüsterte es in ihr. Rasch zog sie die zerlöcherte Decke aus Rupfleinen über ihr Gesicht. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Leben ohne Vergangenheit und voller bedrohlicher Schatten erwacht war, brach der steinernen Ring, den Furcht, Angst und Zorn um ihre anderen Gefühle gelegt hatte. Sie würgte, presste Tränen wie unter Wehen hervor, spürte dünne Rinnsale auf ihren Wangen, weinte, als müsse sie es erst üben, schluckend und schluchzend, bis sie schließlich still wurde.
Was folgte, war kein sanfter Frieden, sondern ein trotziger Entschluss. »Ich brauche meine Vergangenheit nicht«,
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