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Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)

Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)

Titel: Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisa Brand
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Stimme eines Kindes.
    Enoch begann zu schmeicheln. In ihren Ohren klang es, als redete er mit tausend Zungen. Er sprach mit der Stimme von de Selve, von Dudley, von Jane Grey, von Edward, mit all jenen Stimmen, die sie in den letzten Wochen gequält hatten. Gemeinsam formten sie die Stimme ihrer Angst und lösten Grauen in ihr aus. Doch dagegen erhob sich mit einem Mal die Stimme ihrer Mutter, verzweifelt, zerquält, ein einziges Flehen: Odo piad monons ...
    Cass wollte ihre Hände hochreißen, aber es gelang ihr nicht. Odo piad monons ... Öffne dein Herz nur, wenn dein Gott in dir es verlangt. Alles in ihr wehrte sich dagegen, es jetzt zu tun.
    »Kann ich helfen?«, mischte sich plötzlich Painbodys Stimme ein.
    Cass zuckte zusammen. Die Stimme des Folterknechts und die Augen des Propheten stießen sie tief hinab in einen unsagbaren Schmerz und – in einen Keller. Sie sah sich an der Hand Dudleys in einem Gewölbe des Towers. Sie sah ihre halb bewusstlose Mutter. Aufgespannt auf einem mannshohen Holzgerüst. Anne Askews Gelenke waren an Balken gefesselt, zerdehnt wie Brotteig, ihr verzerrter Kiefer entblößte ein zerschlagenes Gebiss. Painbodys Werk. Nein, nicht allein. Bei der Winde, die die Balken höher und höher zu schrauben vermochte, stand ein anderer Mann. Er trug Gefangenenkluft und beugte den Kopf zu seinem Opfer hinab. »Was sagst du?«, fragte er mit Balsamstimme. »Odo piad monons ...« , hörte sie die brechende Stimme der Mutter zu dem Mann sagen. Es war der Mann, dessen Augen sie in diesem Augenblick gefangen hielten.
    »Du bist kein Prophet!«, entfuhr es Cass. »Und dein Name ist nicht Enoch.«
    »Ich bin der, der ich wurde. Ein Erwählter«, sagte der Prophet beschwörend. »Deine Mutter empfing durch mich die Sprache der Engel. Und ich wusste, es ist der Gesang der Erlösung. Er hat mich und sie über allen Schmerz erhoben, über das Leiden jeder Kreatur. Vergiss alle Vergangenheit, opfere alles Leiden der Gegenwart Gottes, verbrenne wie ich das Gestern und das Morgen für das Licht des Herrn! Hilf mir, Gottes Geheimnisse zu offenbaren!«
    »Nein!«, schrie Cass.
    Im selben Augenblick riss Painbody sein Messer über ihrem Rücken hoch. »Darf ich?«, fragte er in Enochs Richtung. Die Augen des Propheten wurden blind. »Gottes Wille geschehe!«
    Painbody lachte.
    »Hurenscheiße!«, schrie Nat, der endlich die Bühne erklommen hatte, und warf sich Painbody entgegen. Der König der Themsekais stieß ihn mit einem einzigen Prankenhieb von sich. Nat flog auf die Bretter. Er glaubte, jede einzelne seiner Rippen würde brechen. Einen Augenblick lang tauchte er in tiefe Finsternis ab. Als sie sich lichtete, sah er, dass Painbody breitbeinig über ihm stand. Der Triumph des Unheils. Nats Augen suchten Enoch und Cass am anderen Ende der Bühne. Sie schienen immer noch einer anderen Welt anzugehören, auch wenn sie nun eine Mauer aus Zorn trennte.
    »Cass, hau ab!«, schrie Nat verzweifelt. Er kam wieder auf die Füße und klammerte sich wieder an Painbody. Der schüttelte ihn ab und lachte. »Wie du möchtest!«, schrie er. »Dann bist du als Erster dran!« Nat wollte sich wieder aufrappeln, doch Painbody setzte ihm einen Fuß auf die Brust. Der Junge verzog das Gesicht, bäumte sich gegen den Schmerz auf.
    »Hilf mir!«, rief er dem Pagen vor der Bühne zu, der aber hetzte in Richtung Stadttor davon. Als hätte er ausgerechnet jetzt einen dringlichen Botengang zu erledigen. Painbodys Fuß presste sich fester auf Nats Brust.
    Langsam erwachte Cass aus ihrer Trance.
    »Mein ganzes Leben hat mich zu dir hingeführt, denn du kannst mich zu Gott führen«, sagte Enoch und schlug die Augen auf.
    Sie sah auf ihre zitternden Hände herab. Sie ruhten in denen des Propheten, in Greisenhände mit Fingern so anrührend zart wie Vogelrippen, so gar nicht wie Schraubstöcke. Ihr Blick glitt hoch in sein mumienhaftes Gesicht zwischen dem wirren Filzhaar. Bei aller Häßlichkeit schien es reine Güte zu sein.
    »Ich wusste es! Die Engel wünschen, dass wir ihre Sprache entschlüsseln!«, rief der Prophet verzückt, ging vor ihr in die Knie und küsste ihre Hand mit dem Opal-Ring. Alles an seiner Haltung war Demut. Aber Cass wusste, dass nichts an diesem Mann Demut war.
    Vor ihr kniete das Böse in menschlicher Gestalt. Hochmütiger als ein Dudley und niederträchtiger als ein de Selve. Dieser Mann war der Prophet des Bösen. Ein vollendeter Lügner, denn er glaubte sich selber jedes Wort, das er sprach. Ein Mensch

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