Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Blicke. Der Turmwächter, der hinter Enoch stand, tastete nach dem Ochsenziemer an seinem Gürtel, doch der städtische Ausrufer schüttelte warnend den Kopf. »Zu früh, das gibt nur Unmut und Ärger«, zischte er. »Der Mann muss weitermachen.« Der Marktvogt und seine Büttel betrachteten mit wachsender Unruhe das Meer aus wogenden Köpfen.
Enoch schwieg beharrlich.
»Ich ahne, was er vorhat«, zischte Nat.
Cass nickte langsam. »Er will durch sein Schweigen Aufruhr schüren und rechnet mit der Hilfe einer unberechenbaren Bestie – dem enttäuschten Volk.« Die Sätze kamen ihr wie von selbst von den Lippen. Irgendwer musste ihr das in der Vergangenheit vermittelt haben. Lord Dudley? Gleichgültig, wer es gewesen war, er hatte recht. In einer Garküche neben der Bühne kam es zu einem Tumult. Der Marktvogt entsandte einen Büttel, damit er für Ordnung sorgte.
»Wenns so weitergeht, haben wir freie Bahn, dann hol ich den Meister von der Bühne«, sagte Nat entschlossen.
Cass sah ihn zweifelnd an. »Wir können unmöglich einen blinden Mann in Ketten heil hier herausbringen, Nat.«
»Warts ab, ich sag doch, der kann mit Engeln reden und ...« Eine schwielige Pranke fiel ihm auf die Schulter.
»Hab ich dich endlich.«
Nat fuhr herum und sah das aasige Lächeln von Joshua Painbody.
»So viel zu Enochs Engeln«, murmelte der Page heiter und schulterte seinen zappelnden Sack.
10.
Samuel stand wie gebannt am Fenster des Mietgefängnisses. Ja. Der Mann hatte recht. Stille war die Sprache Gottes. Die wogende Menge verschwamm vor seinen Augen zu einem Meer ohne Farbe. Allein der Prophet erhob sich darüber, umhüllt von einem schillernden Licht. Gott war nicht der Lärm der Welt, der Lärm der Gedanken, der Lärm des Gefühls oder des Glaubensgezänks, das dieses Jahrhundert durchhallte. Gott war die Stille.
Ein Wunsch nahm Gestalt in ihm an. Sobald sein Vater aus diesem Gefängnis freigekommen war, würde er in die Stille gehen. Nicht als Soldat Christi, aber als Einsiedler. Als heimlicher Mönch unter Bettlern konnte er seinen Frieden finden. Er sah es ganz klar vor sich. Er würde nie mehr kämpfen, um nichts und gegen nichts. Er würde einfach annehmen, was immer das Schicksal ihm auferlegte. In der Stille. So wie sein Lehrer, der Abt Gregorius. Und er würde wie dieser bereit sein, für den Glauben den Tod zu empfangen, ganz gleich, in welcher Form. Die Sehnsucht nach dieser letzten, größten, herrlichsten Stille dehnte ihm die Brust. Er spürte, dass allein die Stille von jeder irdischen Qual frei machte.
»Ich hoffe, das Spektakel da unten ist nun bald vorbei«, sagte Lunetta vom Tisch her. Ihr Sohn antwortete nicht.
»Dann werden die Wächter endlich Zeit finden, deinen Vater zu uns zu bringen«, fuhr Lunetta fort. Sie griff nach einem Brot, schnitt sorgsam Scheibe für Scheibe herunter. Wie konnte sie ihren Sohn nur aus seinem Panzer hervorlocken?
Es drängte sie, ihm von ihren heimlichen Besuchen bei dem bedauernswerten Edward zu erzählen, von ihren Zweifeln an Sidney, von dem Gift, von ihren Stunden mit Cass. Nein, entschied sie, gerade jetzt war nicht der Zeitpunkt, sich ihm zu offenbaren. Er würde es als Versuch einer verspäteten Wiedergutmachung missverstehen. Vielleicht sogar als Versuch, ihn noch einmal für Cass oder die Ziele seiner Eltern zu gewinnen, statt ihm seinen Glauben und seine Begeisterung für Maria Tudor zu lassen. Die Losung der Opal-Bruderschaft war keine Hilfe. Liebe konnte nicht alles besiegen, wenn das Unglück einer zerrissenen Welt so unbarmherzig in das eigene Leben griff.
Sie legte dünne Streifen Fleisch von einem Lendenstück auf die Teller, griff nach dem Salzfass und steckte sich einen Bissen Brot in den Mund. Es schmeckte schal.
Nie hatte sie es mehr bedauert als jetzt, dass sie ihre Hellsichtigkeit vor Jahren verloren hatte. Zugunsten eines geruhsamen Glücks. Ja, sie hatte diese zwiespältige Gabe, die auch das Hineinfühlen in Bedrohliches und Dunkles bedeutete, gegen lange, gute Jahre eingetauscht, gegen eine Familie, ein friedliches, sicheres Leben. Nun, da all dies zu zerbrechen drohte, wünschte sie sich die Zeit zurück, in denen die Bilder des Tarot ihr Warnungen und Hinweise geschenkt hatten.
Als Kind und junge Frau hatte sie es verstanden, Ahnungen und Eingebungen zu folgen. Mit dem Mut einer Verzweifelten. Eine lichtlose Kindheit war ihr ein unerbittlicher und unbestechlicher Lehrer gewesen und hatte ihr die Einsicht geschenkt, dass das, wovon
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