Das Tarot der Engel: Dritter Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
der Bühne und hetzten in alle Richtungen. Die Tollhäusler spendeten Beifall und verfielen in kreischenden Gesang.
»Ol sonf vorsag, goho iad balt, lonsh coli vonpho.« Amen. Immer wieder Amen. Der Markt verwandelte sich in einen Hexenkessel. Enochs Lächeln vertiefte sich, seine silbernen Augen suchten Cass. Sein Blick fing den ihren ein. Cass spürte, wie er sich mit dem ihren vermählte, wie er sie durchdrang, tief hinabtauchte und sah. Den Urgrund einer Seele, geformt aus Flammen, Schmerz, Zorn, Hass und Angst. Alles an ihr schien ihm vertraut. Noch tiefer drang er vor und zog sie wie an unsichtbaren Fäden auf sich zu. Ihr schwindelte, abwehrend streckte sie die Hände aus und strebte doch näher zur Bühne.
Enoch nickte zu jedem ihrer Schritte. Das Toben der Menge schien ihn ebenso wenig zu berühren wie Cass.
»Du elender Zauberer! Bring die Verrückten irgendwie zum Schweigen!«, herrschte ihn der auf der Bühne verbliebene Turmwächter an.
»Welche der Verrückten meint ihr?«, versetzte Enoch freundlich, ohne seine Augen von Cass zu wenden.
Der Wächter ließ einen Peitschenhieb auf den Rücken des Propheten herabsausen. Enoch rührte sich nicht, Cass jedoch krümmte sich unter seinem Schmerz. Die Tollhäusler stürzten sich mit einem einzigen wilden Schrei auf den Peitschenmann, rangen ihn nieder, stießen ihn von der Bühne hinab, hüpften mit Freudengeheul hinterdrein.
Newgate verwandelte sich endgültig in jenes Inferno, das es gewöhnlich nur bei Nacht war.
Enoch breitete die Arme aus, hob den Blick gen Himmel und schrie:
»Omnia vincit amor.«
Joshua Painbody schlang seine Arme um Cass’ Hüften und hob sie wie eine Gliederpuppe auf die Bühne. »Er will dich sprechen, mein Täubchen. Wozu auch immer.«
Samuel riss den Kopf hoch, stemmte sich in die Höhe und war mit einem Satz beim Fenster. Ungläubig starrte er auf die Bühne hinab, sah die sich prügelnde, jagende, rasende Menge, sah den Propheten und Cass, deren Blicke ineinander verschmolzen zu sein schienen. Er sah einen zaundürren Jungen, der sich zappelnd an der Bühne hochzuziehen versuchte und von einem Jüngling in Pagentracht daran gehindert wurde. Nat, die Themseschwalbe! Ein wenig abseits von Cass stand ein Mann – bedrohlich wie eine Bestie – und zog genüsslich ein Gerbermesser hervor.
Samuel stürzte zur Tür der Gefängniskammer, riss sie auf, prallte gegen einen Wächter. »Lass mich durch!«, herrschte er den Mann an. Der schüttelte den Kopf und hob eine Hellebarde. »Hier kommt keiner raus, solange auf dem Markt die Hölle los ist! Alle Kammern und Zellen sind verriegelt. Es reicht, dass die Tollhäusler abgehauen sind.«
»Zum Teufel, ich bin kein Gefangener!«
»Jetzt schon«, erwiderte der Soldat ungerührt.
Gebannt lauschte Cass dem Propheten. Feierlich psalmodierend wie ein Mönch sang er, was gerade noch der Chor der Tollhäusler vorgetragen hatte:
»Ol sonf vorsag, goho iad balt, lonsh calz vonpbo.« Dann zog er den Opal-Ring unter seinen Gewändern hervor und streifte ihn über den Finger ihrer linken Hand. Sie hörte sich wie aus weiter Ferne sprechen, und doch war es nicht sie, die sprach: »Ich regiere über euch, sagt der Gott der Gerechtigkeit ...«
»Übersetze weiter«, bat der Prophet voller Milde.
»... in Kraft erhoben über das Firmament des Zorns.«
»Ja! Du kannst es!«, rief Enoch verzückt.
Cass schüttelte mechanisch den Kopf.
»Ich muss wissen, was danach kommt«, drängte Enoch mit einem Blick, der keinen Widerstand zuließ. »Wie geht es weiter?«
»Odo piad morions ...«, begann Cass und brach wieder ab. Sie versuchte, den Augen des Sehers zu entrinnen, in denen grauenhafte Schatten zu tanzen begannen. »Ich kann nicht«, stammelte sie. »Es wäre Verrat.« Der schmale Reif mit dem Opal brannte sich in ihre Haut.
»Ich weiß, du kannst es. Deine Mutter konnte es.«
Cass spürte Entsetzen in sich hochsteigen. Enoch hielt ihre Hände mit der Zwingkraft eines Schraubstocks umklammert. Mit der Kraft eines Painbody und Henkers. »Du bist ein Werkzeug Gottes. Gebe dich hin, nur ein Mensch voller Hingabe hat Kraft«, flüsterte Enoch. »Ich bin durch das Feuer des Schmerzes gegangen wie deine Mutter, tausendfach. Folge uns. Wir sind die Erwählten. Erhebe dich über alle Verworfenen. Lehre mich die Sprache der Engel!«
Cass spürte ein Reißen in ihren Armen. Sie glaubte, alle Sehnen würden bersten. »Lass mich gehen!«, flehte sie. Ja, das war sie, das war ihre Stimme und die
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