Das Tartarus-Orakel
nach unten drückte.
Wenn sie Zeit gehabt und sich genauer hätten umsehen können, dann hätten West und Lily festgestellt, dass die Wände der Kammer mit Abbildungen der Cheopspyramide übersät waren – auf den meisten davon Darstellungen der berühmten Pyramide, wie sie von einem Lichtstrahl durchdrungen wurde, der von der Sonne herabfuhr.
Aber Wests und Lilys Augenmerk galt hauptsächlich dem, was sich hinter der Vorkammer befand.
Am anderen Ende der breiten Vorkammer, in einem höheren Raum, stand ein riesiger, schmutzverkrusteter Kopf.
Der Kopf war absolut gewaltig, mindestens fünf Meter hoch, fast dreimal so groß wie West.
Trotz der Schmutzschicht war er atemberaubend – die anmutigen griechischen Züge, der herrische Blick und die prachtvolle goldene Krone auf seiner Stirn.
Es war der Kopf einer mächtigen Bronzestatue.
Der berühmtesten Statue aller Zeiten.
Es war der Kopf des Kolosses von Rhodos.
Unmittelbar davor jedoch, zwischen dem großen Bronzekopf und der niedrigen Vorkammer, befand sich eine mit Rohöl gefüllte Grube, die den Kopf des Kolosses umgab.
Das mächtige Götterhaupt ragte aus dem Ölbad wie ein Wesen, das dem Urschlamm entsteigt. Er ruhte weder auf einem erhabenen Piedestal noch auf einem prunkvollen Sockel.
Über der Grube erwartete sie ein weiteres Problem – dort loderten jetzt mehrere Fackeln, die von den alten Feuersteinhämmern entzündet worden waren. Sie hingen an Halterungen, die am Ende der absinkenden Decke der Vorkammer angebracht waren – was wiederum hieß, dass sie bald mit dem Öl in Berührung kommen, es entzünden … und ihnen den Zugang zum Kopf des Kolosses abschneiden würden.
»Wird Zeit, loszulegen«, sagte West.
»Ganz bestimmt, Sir«, erwiderte Lily.
Sie rannten los.
Durch die Vorkammer, unter der breiten, sich senkenden Decke hindurch.
Von draußen drang jetzt Rauch in die Kammer, wo er einen stechenden Dunstschleier bildete.
Sie kamen zu der Ölgrube.
»Wenn Kallimachos Recht hat, ist sie nicht allzu tief«, sagte West.
Ohne zu zögern trat er in die Grube – und versank bis zur Taille in dickflüssigem, schmierigem Öl.
»Spring«, sagte er zu Lily, die prompt gehorchte und in seinen Armen landete.
West setzte Lily auf seine Schulter und watete durch die Ölgrube, während die brennenden Fackeln über ihnen weiter auf das Becken herabsanken und die Decke der Vorhalle immer niedriger wurde.
Obwohl der Ausweg zusehends schmäler wurde, blieb Jack West jr. ein paar Meter vor dem Kopf des Kolosses von Rhodos stehen.
Teilnahmslos ragte er über ihm auf, mit jahrhundertealtem Schmutz verkrustet.
Jedes seiner Augen war so groß wie Lily.
Die Nase war so groß wie er.
Die goldene Krone schimmerte, und an einer Kette um seinen Hals hingen drei goldene Rhomben.
Die Anhänger.
Jeder war etwa so groß wie ein dickes Lexikon und in Form eines Rhombus gestaltet. In der Mitte der oberen Fläche eines jeden Anhängers war ein diamantartiger Kristall eingelassen.
In die abgeschrägte Vorderseite der Anhänger war eine Reihe kunstvoller Zeichen eingeritzt – eine unbekannte Sprache, offenbar eine Art Keilschrift.
Es war eine uralte Sprache, eine gefährliche Sprache, eine Sprache, die nur ein paar wenige Auserwählte kannten.
West betrachtete die goldenen Anhänger.
Einer davon war das zweite Stück des goldenen Schlusssteins, der Miniaturpyramide, die einst die Spitze der großen Pyramide von Giseh gekrönt hatte.
Der aus sieben waagerechten Teilen zusammengefügte goldene Schlussstein war vermutlich das größte Kunstwerk des Altertums – und im letzten Monat war er zum Ziel der größten Schatzsuche aller Zeiten geworden. Dieses Stück, das zweite, war der Teil des goldenen Schlusssteins, der sich unmittelbar unter dem sagenumwobenen ersten Stück befunden hatte, der kleinen, pyramidenförmigen Spitze.
Drei Anhänger.
Aber nur einer war der richtige.
Und den richtigen auszuwählen war die alles entscheidende Aufgabe, bei der es ganz auf Lily ankam.
Er musste noch einen weiteren Schritt tun, um den Kopf zu erreichen, und das bedeutete, dass er die letzte Falle auslöste.
»Okay, Kleines. Bist du bereit? Ich will es doch hoffen.«
»Ich bin bereit«, erwiderte Lily grimmig.
Und daraufhin trat West einen Schritt vor und –
Tschonk!
– ein unsichtbarer Mechanismus unter der Oberfläche der Ölgrube schloss sich eng um seine Beine und hielt sie an zwei alten Steinsockeln am Boden des Beckens fest.
West war jetzt in
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