Das Tattoo
jetzt etwas kürzer. Er versuchte sich vorzustellen, wie sie ohne ihn ge lebt haben mochte. Wie sie sich Kleider und Lebensmittel gekauft hatte. Wie sie zum Frisör oder ins Kino gegangen war, wie sie sich Filme angesehen hatte, die sie zum Weinen brachten. Der Gedan ke, dass sie mit all diesen alltäglichen Dingen beschäftigt war, während er innerlich starb, mutete ihm irgendwie obszön an.
Aber außer den offensichtlichen stellte er auch noch andere Unterschiede zu früher fest. Ihr Gesicht war schmaler geworden, der Teint blasser. Er nahm einen Zug um ihren Mund wahr, der früher nicht da gewesen war, und zwischen ihren Augenbrauen hatte sich eine haarfeine Falte gebildet. Ihr Gesichtsausdruck war der einer Frau, die viel gelitten hat.
Und abgesehen von dem mysteriösen Geld war da auch noch eine Tätowierung, die ihm Rätsel aufgab.
Die hatten sie erst gestern Morgen entdeckt, als die Kranken schwestern Frankies Bett frisch bezogen hatten. Als man sie auf die Seite gerollt hatte, um das Laken zu wechseln, war ihr Haar
nach vorn gefallen und hatte in ihrem Nacken dicht unterhalb des Ansatzes eine kleine goldene Tätowierung freigelegt.
Eine der Krankenschwestern hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Für Clay war der Anblick des Tattoos ein weiterer Stich ins Herz gewesen. Er hatte den Umriss mit einem Finger nachge zeichnet und sich vorzustellen versucht, in was für einer Stim mung sie gewesen sein mochte, als sie sich für die Tätowierung entschied, aber es gelang ihm nicht.
„Es ist so eine Art heiliges Kreuz”, sagte die Krankenschwes ter. „Ich habe so etwas früher schon gesehen, aber ich habe ver gessen, wie man es nennt.”
„Es ist ein Henkelkreuz”, murmelte Clay. „Ein ägyptisches Symbol des ewigen Lebens, glaube ich.”
Die Krankenschwester warf ihm einen neugierigen Blick zu, sagte jedoch nichts weiter. Die ganze Station wusste Bescheid. Immerhin war das Gesicht dieses Mannes fast ebenso oft im Lo kalfernsehen zu sehen gewesen wie das des Quarterbacks der heiß umjubelten Denver Broncos.
Sie lächelte Clay an, dann zupfte sie noch ein letztes Mal an Frankies Laken. „So, fertig. Jetzt hat sie es wieder sauber und frisch. Ich komme später noch einmal, um den Tropf nachzufüllen.”
Clay hasste das Mitgefühl, das man ihm plötzlich entgegen brachte, fast ebenso sehr wie die haltlosen Verdächtigungen, de nen er früher ausgesetzt war. So war er auch froh, wieder allein zu sein, als die Krankenschwestern fort waren. Er brauchte die Einsamkeit für seine Grübeleien, selbst wenn sie ihm keine Antwort auf die Frage lieferte, wo Frankie die ganze Zeit über gewesen war. Er konnte jetzt nur warten, bis sie aufwachte. Alles andere würde sich später finden. So hoffte Clay wenigstens.
Nachdem es dreiunddreißig Stunden ununterbrochen geschüttet
hatte, klarte der Himmel über Denver endlich auf. Die Straßen glänzten wie frisch gewienert, während die letzten Rinnsale in den Gullys versickerten. Die nach Herbst riechende Morgenluft war kalt und klar. Die Blätter hatten sich schon vor Wochen ver färbt, und die schneebedeckten Spitzen der Rocky Mountains waren eine ständige Erinnerung an den bevorstehenden Winter.
Als Frankie erwachte, fand sie Clay in einem Sessel schlafend neben ihrem Bett. Sie zog nachdenklich die Augenbrauen zusam men, während sie versuchte, sich an einen Traum zu erinnern, in dem Palmen vorgekommen waren. Gleich darauf zuckte sie zusammen, geblendet von den Strahlen der frühen Morgensonne.
„Au”, stöhnte sie.
Zusammen mit ihrem nächsten Atemzug schrak Clay aus dem Schlaf hoch.
„Francesca?”
Sie schluckte. Ihre Zunge fühlte sich schwer an. „Was ist pas siert? Wo bin ich?” fragte sie benommen.
„Du bist im Krankenhaus”, sagte er. „Lieg still. Ich hole eine Schwester.”
„Nein, warte.”
Aber er war bereits weg. Sie schaute sich mit einem Aufseuf zen in dem Raum um und versuchte, die Bruchstücke ihrer Erin nerung zusammenzusetzen. Es hatte geregnet, und sie hatte zu Hause auf Clay gewartet. Irgendwann war sie eingeschlafen und dann …
An diesem Punkt hörte alles auf. Sie versuchte es noch einmal, ein Stück weiter vorn beginnend.
Sie war draußen im Regen gewesen. Aber wo und warum? Sie schloss die Augen und verdrängte die fruchtlosen Gedanken. Plötzlich aber sah sie sich aus einem Gebäude herauslaufen. Sie konnte sich erinnern, wie ihr das Regenwasser hinten an den Bei nen hochgespritzt und in die Schuhe gesickert war. Und
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