Das Tattoo
sie erin nerte sich auch, dass sie einem Taxi gewunken und ein Gefühl von unendlicher Erleichterung verspürt hatte, nachdem sie dem Fahrer ihre Adresse genannt hatte. Danach aber konnte sie sich nur noch bruchstückhaft erinnern. Sie wusste zwar, wie sie sich durch den Verkehr geschlängelt haben, aber das war in einer Stadt wie Denver kein besonders konkreter Hinweis.
Und dann? Sie runzelte die Stirn. Ein Bus? Sie zuckte zusam men, als sie wieder vor sich sah, wie er um die Ecke bog. Hatte sie einen Unfall gehabt? War sie deshalb hier? Sie erinnerte sich da ran, dass sie Schmerzen gehabt hatte und gleich darauf erneut nass geworden war. Danach an den Wunsch, nach Hause zu Clay zu kommen, ein Wunsch, der so stark gewesen war, dass er offen bar alles, was sonst noch gewesen war, aus ihrem Gedächtnis löschte.
Ein Lautsprecherausruf riss sie für einen Moment aus ihren Gedanken. Dann aber sah. sie den Topf mit den verdorrten Gera nien auf der Veranda vor sich, aus dem sie den Ersatzschlüssel ge holt hatte und ins Haus gegangen war.
Sie atmete wieder tief durch, während sie versuchte, sich alles, was sie im Haus gemacht hatte, zu vergegenwärtigen. Was hatte sie getan, nachdem sie es betreten hatte? Ach, ja, die Wäschekammer. Ihre Kleider waren nass gewesen, deshalb war sie in die Wä schekammer gegangen und hatte sie in den Trockner geworfen. Auf dem Weg durch die Küche hatte sie eine Tablette gegen ihre rasenden Kopfschmerzen genommen, dann hatte sie sich eins von Clays Hemden angezogen und war ins Bett gekrochen.
Sie umklammerte unbewusst ihre Zudecke, während sie versuchte, sich einen Weg durch den Dschungel kurz aufblitzender Erinnerungsfetzen zu bahnen.
Plötzlich hörte sie vom Flur lautes Rumoren. Bevor sie die
Geräusche zuordnen konnte, wurde die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet. Sie rang nach Luft. Im Gegenlicht zeichnete sich die Sil houette eines Mannes ab. Sie keuchte. Obwohl ihr Herz ihr sagte, dass der Mann Clay war, sagte ihr Verstand etwas anderes. Der Drang zu fliehen, war so stark, dass sie ihre Decke zurückwarf und anfing, sich die Schläuche und Kabel abzureißen, die sie mit den Apparaten verbanden.
Clay rannte zu ihr und bekam sie noch rechtzeitig zu fassen, bevor sie aus dem Bett springen konnte.
„Nicht, Frankie!”
„Lass mich los!” schrie sie und begann zu weinen. „Bitte lass mich los. Ich will nicht sterben.”
Er erschauerte. Die wilde Verzweiflung, die sich auf ihrem Gesicht widerspiegelte, war erschreckend und schockierte Clay mehr als die Einstichstellen in ihren Armbeugen. Diese Frau war eine Fremde. Als sie ausholte und ihm mit voller Kraft ins Ge sicht schlug, starrte er sie fassungslos an. Blut lief ihr den Arm hi nab, das aus den Wunden tropfte, in denen eben noch die Kanü len steckten. Erst der Anblick der roten Flecken auf dem ansons ten blütenweißen Laken riss ihn aus seiner Erstarrung.
Er hielt sie an den Armen fest und rief laut nach einer Kran kenschwester.
Ihre Gesichtszüge waren gelähmt vor Angst, als sie versuchte, sich von ihm loszureißen und die Decke abzustrampeln, in der sie sich verheddert hatte. Gleich darauf stürmten zwei Krankenpfleger in das Zimmer und Clay wurde auf den Flur gezerrt.
Er sank auf einen Stuhl, beugte sich vornüber und stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln auf. Seine Hände zitterten. Sein Hemd war mit ihrem Blut bespritzt. Durch die geschlossene Tür hörte er sie immer noch weinen. Angespannt biss er die Zähne zusammen, dass seine Kiefermuskeln zuckten. Clay zwang sich,
einmal tief durchzuatmen. Wenn er sich nicht zusammenriss, würde auch er gleich in Tränen ausbrechen. Schon zum zweiten Mal war sein Leben die Hölle.
Wenig später betrat der Arzt das Krankenzimmer. Als er wie der herauskam, stand Clay auf.
„Geht es ihr besser?”
Der Arzt nickte.
„Was hatte sie denn?” erkundigte sich Clay.
„Ich bin mir nicht sicher; ins Unreine gesprochen würde ich sagen, sie leidet an einer Art traumatischem Flashback. Wir haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben. Wenn sie sich körperlich ein bisschen erholt hat, sollten Sie vielleicht eine Therapie ins Auge fassen.”
Ein Psychiater? Himmel, was denn noch alles? Clay atmete langsam aus und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar.
„Hatte sie einen Nervenzusammenbruch?”
Der Arzt lächelte. „Nein, Mr. LeGrand, nichts dergleichen. Sobald sie sich ein bisschen erholt hat, werden wir sehen, woran sie sich erinnert und dort anknüpfen.”
Clay akzeptierte
Weitere Kostenlose Bücher